Als jüngstes von sieben Kindern, war es für Jean-Jaques Pastinaque nichts Neues, mit unangenehmen Situationen konfrontiert zu werden. Seine sechs älteren Brüder hatten früher jede Gelegenheit genutzt, ihm ausufernde, mitunter hart an die Grenze gehende, Streiche zu spielen. Jean-Jaques wachte nachts gelegentlich immer noch auf, weil er träumte, in einen riesigen Bottich mit teilweise gestocktem Schweineblut gestoßen zu werden, in dem er, wild um sich strampelnd, jämmerlich ertrank. Unnötig zu erwähnen, dass der Ursprung dieses Albtraums in einem praktikablen Scherz lag, den seine Brüder vor Ewigkeiten ausgeheckt hatten.
Genau an diesen Streich wurde er jäh erinnert, als er den Streifenwagen mit Blaulicht und Sirene an der Rue de la Gaque quietschend zum Stehen brachte und hinaushechtete, nur um sofort gegen eine Wand aus bestialischem Gestank anzurennen, die ihn zurückprallen ließ.
Mon dieu, was für ein Odeur!
Jean-Jaques presste sofort seine Nase in die Armbeuge seiner Uniform und stolperte weiter. Dabei wedelte er mit der freien Hand vor sich hin und her, ganz so, als wäre er dadurch imstande, den nasenbetäubenden Geruch zu verscheuchen. Als ihm bewusst wurde, dass ihn von der gegenüberliegenden Straßenseite, wo sich bereits eine große Menge schaulustiger Passanten versammelt hatten, einige mit ihrem Smartphones filmten, hielt er kurz inne. Für diese Leute musste es so aussehen, als würde er gebeugten Schrittes Fliegen verscheuchen. Er beschloss, die Hand lieber auf den Griff seiner Dienstwaffe zu legen, die in ihrem Holster steckte. Die Nase blieb indes wo sie war – in seiner Armbeuge.
„Zentrale an Wagen 69, Zentrale an Wagen 69! Seargent Pastinaque, bitte melden!“, tönte es plötzlich aus dem Lautsprecher seiner mobilen Funkeinheit, die er sich lässig in die Schulterstreifen seiner Dienstjacke gehängt hatte. Mimi, die Schichtleiterin, hatte Jean-Jaques den Notruf zugeteilt und er musste sofort an die Sommersprossen auf ihrem Hals denken, als er stehenblieb um zu antworten.
„Hier Pastinaque!“
„Seargent Pastinaque, sind Sie beim Tatort eingelangt?“
„Ja, bin…“ Es folgte ein mittelschwerer Hust- und Würge-Anfall.
„Ja, bin ich.“, keuchte Jean-Jaques schließlich, nachdem er angewidert ausgespuckt hatte. Der Gestank war unerträglich!
„Es riecht entsetzlich hier! Schicken Sie bitte einen Wagen der Feuerwehr, die soll sich das hier mal ansehen, irgendwas stimmt hier nicht.“
„Verstanden. Warten Sie bitte auf Wagen 33 und 54, die sind bereits unterwegs.“
„Verstanden. Over.“
Jean-Jaques steckte das Funkgerät zurück auf seine Schulter und sah sich um. Er stand vor einem Blumenladen. Die Scheiben beider Auslagen lagen in tausend Splittern vor dem Geschäft, überall lagen zebrochene Blumentöpfe, Erde und zerfetzte Blumenkadaver. Obwohl, bis auf das Chaos auf dem Gehsteig, nichts darauf hinwies, schien der grauenhaften Geruch seinen Ursprung in diesem Blumengeschäft zu haben. Jean-Jaques war es schleierhaft, was in einem Blumengeschäft existieren konnte, das so einen Geruch verursachte. Es sah alles danach aus, als wäre hier eine Bombe hochgegangen. Ein Buttersäure Angriff vielleicht? Er steckte seine Nasenspitze tiefer in die Armbeuge und blinzelte ein paar Tränen weg, als irgendwo im Laden plötzlich jemand zu schreien begann. Nein, Kreischen traf es wohl eher. Es klang, als würde jemandem die Haut bei lebendigem Leibe abgezogen. Jean-Jaques fuhr erschrocken zusammen wobei sich die Haare an seinem Nacken sofort aufstellten. Der Schreck schickte eine Gänsehaut der übelsten Sorte sein Rückgrat hinunter wo sie mit voller Wucht auf sein Steißbein traf, was Jean-Jaques’ zusammengekniffener Anus mit einem zaghaften „Pft“ quittierte. Mit zitternden Fingern griff er nach dem Funkgerät und kontaktierte die Zentrale.
„Zentrale, hier Wagen 69! Zentrale, hier Wagen 69, bitte kommen!“
Nach einer gefühlten Ewigkeit meldete sich Mimi. Sie schien etwas zu kauen.
„Hier Zentrale, was gibt’s, Wagen 69?“
Jean-Jaques hielt das Funkgerät in Richtung Blumengeschäft. Das Kreischen wurde immer lauter und trieb glühende Nägel in die Ohren aller, die den Fehler machten, sich in der Nähe aufzuhalten. Die Schaulustigen hatten bereits, alle verfügbaren Zeigefinger in die Ohren steckend, erschrocken das Weite gesucht, was zur Folge hatte, dass Jean-Jaques diesem ohrenbetäubenden Lärm nun mutterseelenalleine ausgeliefert war.
„Können Sie das hören?“, brüllte er in sein Funkgerät.
Mimi antwortete nicht sofort. Vermutlich schluckte sie zuerst ihren Bissen hinunter. Endlich war es soweit.
„Sergeant Pastinaque, warten Sie auf Wagen 33 und 54! Anweisung von Capitain Gastone! Gehen Sie auf keinen Fall in den Blumenladen!“
Jean-Jaques kniff die Augen zusammen. Seine Nase war immer noch diesem horrenden Geruch ausgesetzt und zeigte erste Spuren von Taubheit und nun mussten seine armen Ohren mit diesem himmelschreienden Lärm fertigwerden, bei dem er nur die Hälfte von dem verstand, was ihm Mimi durch das Funkgerät zurief. Daher war es auch nicht weiter verwunderlich, dass er, entgegen seiner inneren Antenne, die ihm eindringlich zu verstehen gab, sich keinen Millimeter weiter zu bewegen, Mimi’s Anweisung, sofort in den Blumenladen zu gehen, wenngleich auch nicht besonders motiviert, aber nichtsdestotrotz umgehend in die Tat umsetzte.
Er hängte das Funkgerät auf seine Schulter und fingerte ein benutztes Taschentuch aus seiner Jackentasche, das er in vier Teile riss. Er steckte sie sich abwechselnd in den Mund, wobei er beim Kauen eine ziemliche Grimasse schnitt, als er knirschend auf etwas biss, was genauso Schokokrokant wie vertrockneter Rotz sein konnte. Er rollte die speichelgetränkten Tücher zu vier Kugeln und stopfte sie, soweit er konnte, in seine Ohren und Nasenlöcher. Danach atmete er flach durch den Mund, zog seine Dienstwaffe und betrat, nachdem er langsam über allen möglichen Unrat und Scherben gestiegen war, zaghaft und zitternd das Blumengeschäft.