Rache

Als die Tür zum Krankenzimmer geöffnet wird, schreckt Murat hoch. Er ist während der langen Warterei im Sitzen eingedöst und nickt gähnend in Richtung Arzt, der, bewaffnet mit einem Klemmbrett, auf dem Murats Entlassungspapiere befestigt sind, den Raum betritt. Er sieht sich kurz um und überfliegt eine halbe Ewigkeit die Papiere, ehe er Murat mit einem aufgesetzten Lächeln zunickt.

“Herr Kahraman, ja?”. Murat nickt stumm.

“Ich..” Der Arzt überfliegt erneut die Entlassungspapiere. “Sie.. können heute… ja, Sie können heute nach Hause gehen. Bitte den Druckverband auf den Rippen lassen und wenn die Kopfschmerzen nicht mehr auszuhalten sind, nehmen Sie einfach das Schmerzmittel, das ich ihnen verschrieben habe. Das Rezept dafür bekommen Sie bei der Krankenschwester am Schalter vorne.”

Murat steht auf, zupft seine Kleidung zurecht und schüttelt dem Arzt die Hand. “Vielen Dank, Herr Doktor.”

Der Arzt sieht ihn nachdenklich an. “Sie kommen klar, oder, Herr Kahraman? Hat sich jemand um die Überführung ihrer Mutter gekümmert?”

Murat verzieht das Gesicht zu einem einstudierten Maske und nickt. “Ja, alles erledigt. Sie wurde bereits bestattet. Das muss bei uns innerhalb von drei Tagen passieren, so will es der Islam.”

Der Arzt nickt. “Na, gut! Also, dann. Alles Gute!”

Sie schütteln sich erneut die Hände, Murat schnappt seine Sporttasche und verlässt den Raum. Am Schalter bekommt er sein Rezept für Novalgin Schmerztabletten und danach verlässt das Spital.

Dass sein Leben eine derartige Kehrtwende machen würde, hätte er nicht erwartet. Nicht in hundert Jahren. Vor einigen Wochen hatte er noch mit seinen Eltern in ihrer kleinen Wohnung im dritten Gemeindebezirk gefrühstückt. Sie hatten sich lachend an gemeinsame Fahrten mit dem Familienauto in die Türkei erinnert und sich gegenseitig versprochen, in naher Zukunft gemeinsam in die Türkei zu fahren. Murat hatte seine Mutter umarmt, sie auf die Wange geküsst und dann ihren wunderbaren Geruch eingeatmet. Nun war sie tot. Ermordet von einem Unbekannten, der ihr so lange mit einer Eisenstange auf den Kopf geschlagen hatte, bis sie ihre Handtasche freigab, in der sich ein Kuvert mit fünfzehntausend Euro befand. Geld, dass sie gemeinsam mit Murat von der Bank abgehoben hatte. Murat lag da schon mit einem Schädelbasisbruch und mehreren gebrochenen Rippen blutend zwischen zwei geparkten Fahrzeugen und bekam nicht mit, dass seine Mutter nur wenige Meter entfernt von ihm ihr Leben aushauchte. Als er im Spital zu sich kam, weigerte er sich zu glauben, was ihm sein Vater zu erzählen versuchte, es klang einfach zu skurril. Er weinte, schrie und verlor schließlich das Bewußtsein.

Nein, dass sei Leben eine derart drastische Kurskorrektur vornehmen würde, hätte er in tausend Jahren nicht erwartet.

Die Polizei besuchte Murat im Spital um ihm Fragen zu stellen. Ob jemand seiner Familie feindlich gesinnt gewesen wäre oder ihnen Schlechtes wollen würde. Ob seine Mutter herum erzählt hätte, dass sie diesen hohen Geldbetrag abheben würde. Wer alles davon wusste. Murat nickte oder schüttelte stumm den Kopf und machte sich seine eigenen Gedanken zu der ganzen Sache. Als er gemeinsam mit seiner Mutter die türkische Bankfiliale am Wiener Schubertring verlassen hatte, schien vorerst alles in bester Ordnung zu sein. Sie gingen um die Ecke, Arm in Arm, und bewegten sich auf Murats Wagen, einen blauen Opel Corsa, zu. Murat holte seinen Schlüssel aus der Hosentasche um aufzusperren und ein blitzartiges Aufflackern von Rot vor seinen Augen war das letzte, woran er sich noch erinnern konnte. Augenzeugen zufolge war ein mit einer schwarzen Sturmhaube bekleideter Mann von hinten auf sie zugelaufen und hatte Murat einen länglichen Gegenstand auf den Kopf geschlagen. Als dieser zu Boden gegangen war, trat der Unbekannte noch einige Male in Murats Rippen, wobei er aber schon mit einer Hand die Tasche der alten Frau gepackt hatte. Als diese, schreiend und wie wild um sich tretend, nicht loslassen wollte, holte die Person erneut aus und schmetterte den Gegenstand, der etwas später in einer Seitengasse gefunden wurde und der sich als einfache Eisenstange entpuppte, mehrmals mit voller Wucht auf den Kopf von Murats Mutter, was nach Aussagen des Gerichtsmediziners, den sofortigen Tod verursachte.

Außer sich vor Rage, Verzweiflung und Trauer hatte Murat die Zeit in seinem Spitalbett genutzt, um sich die Frage zu stellen, wer um alles in der Welt von dem Geld hätte wissen können. Außer seinen Eltern und ihm wusste niemand, dass sie an dem Tag zur Bank gehen würden. Murat hatte die Abhebung einen Tag vorher beim Schalter bekanntgegeben, da die Bank sich bei Behebungen über zehntausend Euro eine Bearbeitungszeit von 24 Stunden erbat. Somit war die Bank die einzige Instanz, die darüber bescheid wußte.

Die Bank.

Murat ging ihren Besuch in der Filiale dutzende Male im Kopf durch und versuchte sich alle Personen in Erinnerung zu rufen, die anwesend gewesen waren. Der junge Schalterbeamte, dahinter, an einem Schreibtisch sitzend, dessen Chef, der gelangweilt in einer Zeitschrift blätterte, einen älteren Kassier, der türkischen Tee trank und etwas weiter vorne beim Eingang eine junge Dame, die gestresst irgendwelche Daten in einen Computer einklopfte und keinen besonders aufmerksamen Eindruck vermittelte. Murat hatte den jungen Mann am Schalter davon in Kenntnis gesetzt, dass sie gekommen waren um den Geldbetrag abzuheben und danach war alles ganz normal erledigt worden. Aber wie Murat es auch drehte und wendete – in seinem Kopf hatte sich das Gesicht dieses jungen Kerls vom Schalter manifestiert und dieses weigerte sich standhaft, zu verschwinden. Die folgenden Tage hatte Murat mit pochendem Kopf und schmerzenden Rippen, in seinem Krankenbett liegend, genutzt um sich einer Theorie zu widmen, die mit jedem Mal plausibler zu klingen schien. Der Scheißkerl am Schalter hatte irgendwem gesteckt, dass Murat an dem Tag einen hohen Geldbetrag abheben würde und eine zweite Person hatte sich in der Nähe versteckt um im richtigen Moment zuzuschlagen. So und nicht anders war das gelaufen, Murat hatte am Tag seiner Entlassung keine Zweifel mehr – der Hurensohn vom Schalter hatte das alles angeleiert. Murat verlässt also sein Krankenzimmer, schnappt sich am Schalter sein Rezept für Novalgin Schmerztabletten und verlässt das Spital.

Sein Name ist Engin Vural. Murat hat von einer Telefonzelle aus in der Filiale angerufen und unter einem Vorwand den Namen dieser Mißgeburt herausgefunden. Die Telefonzelle hat er eine geschlagene Stunde gesucht, er schüttelt erneut ungläubig den Kopf. Vor 20 Jahren gab es die Dinger an jeder Straßenecke, heute befinden sich an den Stellen nur offene Bücherschränke oder Briefkästen.

Engin Vural.

Murat sagt sich den Namen so oft vor, bis er absurd klingt. Er hatte die letzten Tage ausgiebig Zeit, sich einen Schlachtplan auszudenken. Er wird sich diesen Mistkerl schnappen und ihn dazu bringen, zu gestehen.

Engin Vural.

Vorher muss er jedoch noch seinen Vater besuchen. Dieser ist seit dem Tod seiner Mutter in einen depressiven Zustand verfallen und er weigert sich standhaft, wieder ins Land der Lebenden zurückzukehren. Er liegt daheim im Bett, weint und schläft. Schläft und weint. Kein Essen, kein Trinken. Murat schluckt bei dem Gedanken an seinen Vater Tränen hinunter. Er verspricht ihm hoch und heilig, dass er den oder die Verantwortlichen zur Rechenschaft ziehen wird.

Engin Vural.

Nomen est omen. Der Nachname “Vural” bedeutet wörtlich übersetzt “Schlag zu und nimm”. Das kann doch unmöglich ein Zufall sein! Murat spürt, wie seine Schläfen zu pochen beginnen. Er fährt in die nächste Apotheke und gibt das Rezept ab. Als die rothaarige Dame ihm mitteilt, dass Novalgin Schmerztabletten sehr stark seien und er nicht mehr als eine nehmen solle, nickt er brav. Murat steckt sich zurück in seinem Wagen zwei Tabletten in den Mund und schluckt sie mit etwas Mineralwasser herunter. Die Flasche steckt noch in der Konsole. Wo seine Mutter sie bei ihrer letzten Fahrt hineingesteckt hat. Murat schließt hält sich schluchzend die Hände vors Gesicht und gibt sich erneut seiner Verzweiflung hin.

Der Besuch bei seinem Vater macht alles nicht besser. Er weigert sich immer noch sein Bett zu verlassen oder etwas zu essen. Murat fleht ihn zuerst an, dann versucht er es mit einem strengen Ton, den sein Vater jedoch erst recht ignoriert. Er soll ihn einfach liegen lassen, sagt der alte Mann. Er wolle zu seiner Frau, sie warte schon auf ihn. Murat hat das Gefühl zu ersticken, küsst seinen Vater schnell auf die Stirn und verlässt die Wohnung seiner Eltern. ‘Die Wohnung seines Vaters’, schießt es ihm durch den Kopf, als er die Treppen hinunter hastet. Nicht mehr die Wohnung seiner Eltern. Hitze durchflutet seinen Körper wie brennende Säure und als er das Wohnhaus durch das geöffnete Haustor verlässt, erbricht er seinen Mageninhalt vor ein parkendes Auto. Er würgt und würgt, bis nur mehr brennende, gelbe hasserfüllte Magensäure von seinen Lippen tropft.

Der Scheißkerl wohnt im zehnten Bezirk. Murat hat seine Wohnadresse ausfindig gemacht. Nachdem er seinen mittlerweile verhassten Namen stundenlang in Suchmaschinen geklopft hat, wurde er in einigen Foren fündig. Mehrere Postings über Auto-Tuning und Sommerreifen und so Mist. Murat hat den Thread verfolgt, bis der Kerl in einem Posting tatsächlich seine Adresse preisgibt. Öffentlich. Murat ist zu gleichen Teilen erleichtert und entsetzt und erfährt hier sogar, was für ein Auto der Typ fährt. Einen orangen Audi A3, noch auffälliger geht es kaum. Der Idiot hat sogar ein Foto gepostet, auf dem das Kennzeichen unkenntlich gemacht wurde. Nicht weiter tragisch, das Scheißding ist so auffällig wie ein Kropf und wird mit Sicherheit in der Nähe der Wohnung geparkt sein. Das Posting ist einige Monate alt, Murat hofft, dass das Schwein mittlerweile nicht umgezogen ist.

Ein Plan nimmt langsam aber sicher Form in Murats Kopf an. Nachts liegt er wach und denkt sich aus, wie er den Mörder seiner Mutter zur Rede stellt. Auch wenn dieser Engin nicht selber die Waffe geschwungen hat – für Murat steht vollkommen zweifellos fest, dass er der Verantwortliche ist. Das Schwein, das seine Mutter erschlagen hat, wird auch noch Gelegenheit bekommen, sich zu rechtfertigen, das schwört sich Murat hoch und heilig, während er jede Nacht in einen komatösen Zustand driftet, aus dem er verquollen und komplett steif aufwacht. Menschen im Traum umzubringen nimmt einem scheinbar jegliche Chance auf erholsamen Schlaf.

Als sich genügend Krankenstandstage angehäuft haben, stellt Murats Chef ihn zur Rede. Er habe vollstes Verständnis dafür, dass Zeit benötigt werde und das, was seiner Mutter passiert sei, fände er über alle Maßen schrecklich, aber er führe hier ein Unternehmen und müsse von Murat wissen, ob er vorhabe, zurückzukehren oder nicht. Murat, unrasiert und verschlafen, dreht sich wortlos um, räumt seinen Spind aus und verlässt das Gebäude, ohne auch nur ein einziges Mal zurückzublicken. Am gleichen Tag ruft ihn eine Nachbarin seiner Eltern.. nein, eine Nachbarin seines Vaters, an um ihm zu sagen, dass die Rettung seinen Vater abgeholt habe. Die Fahrt zum Krankenhaus wird für Murat zu einem Spießrutenlauf durch die Hölle. Überall Baustellen, ganz Wien steht, nichts bewegt sich. Wimmernd und sich die Unterlippe blutig beißend, verflucht Murar alles und jeden aus seinem Wagen. Er fuchtelt wild mit den Armen, schreit aus dem geöffneten Fenster und packt schließlich das Lenkrad so fest mit beiden Händen, bis er einen Krampf in den Handflächen bekommt und kreischend loslässt. Im Spital angekommen, erfährt er von einer Ärztin, die seit 32 Stunden im Dienst ist, trocken und emotionslos vom Tod seines Vaters.

Sich zu schneiden ist keine neue Entwicklung für Murat. Als Jugendlicher holte er öfter eine Rasierklinge aus dem Badezimmer, um sich lange Schnitte am linken Unterarm zuzufügen. Warum er das tat, hat er nie herausgefunden. Irgendwann war der Drang verschwunden. Scheinbar hatte er zu sich gefunden und war mit sich im Reinen. Als er eine Woche nach der Bestattung seines Vaters in seinem Bett liegt, den linken Arm komplett blutverschmiert und von tiefen, teils verkrusteten Schnitten übersät, fragt er sich, was zur Hölle passiert war. Das Schwein, das für den Tod seiner Mutter verantwortlich war, lief immer noch atmend und essend und lebend durch die Gegend, während seine Eltern innerhalb kurzer Zeit gestorben waren. Das stimmte doch irgendetwas nicht. Während Murat die Rasierklinge ein weiteres Mal tief über seinen Unterarm streift, muss er an seinen Cousin denken, den er bei der Bestattung seines Vaters gesehen hat. Der war vielleicht fett geworden. Murat lacht, flüstert ein paar Verwünschungen auf Türkisch und trinkt anschließend die halbvolle Bierflasche, die auf dem Nachtkästchen steht, in einem Zug aus, während sein Blut langsam und heiß und rot ins Bettlaken rinnt.

Als die Tür zum Krankenzimmer geöffnet wird, schreckt Murat hoch. Er ist eingeschlafen, wobei ihm scheinbar Sabber aus dem Mundwinkel geronnen ist. Sein Kinn fühlt sich nass und seine Mundecken verklebt an. Ein Arzt hat, bewaffnet mit einem Klemmbrett, den Raum betreten und studiert konzentriert die Befunde, die darauf befestigt wurden. Schließlich nickt er Murat freundlich zu.

“Herr Kahraman, wie geht es uns heute?”

Murat hebt seine Arme soweit es die Lederriemen zulassen und hält sie kommentarlos und demonstrativ eine zeitlang hoch.

“Die sind sie bald los, Herr Kahraman, versprochen.” Er blinzelt Murat freundlich und aufmunternd zu.

“Ich muss bald los”, krächzt Murat schließlich. Schließlich hat er ja einen Job und um seine Eltern muss sich ja schließlich auch jemand kümmern. Murat erzählt dem Arzt davon, dieser nickt, immer noch freundlich, und macht sich Notizen.

Seine Mutter, betont Murat mehrmals, seine Mutter müsse ihn besuchen kommen. Und ihm gefüllte Weinblätter mitnehmen. Die macht nämlich niemand besser als sie, behauptet er. Der Arzt nickt.

Als Murat wieder alleine ist, dreht er seinen Kopf zur Seite und blick in die Wand hinein.

“Ach, Mama”, seufzt er unglücklich.

Und dann weint er.

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