Die Hand, die mich schüttelt ist kalt. Schlaftrunken öffne ich meine Augen und blicke in das Gesicht meiner Schwester. Sie ist scheinbar auch gerade erst aufgewacht, kleine Sandkörner purzeln aus ihren Augenwinkeln auf mein Gesicht. Es ist Winter, es ist nass, es ist kalt, ich bin neun Jahre alt.
Während ich mir in der Küche die Fingerspitzen anfeuchte und mit ihnen danach alibihalber vor meinem Gesicht herumwedle, bereitet mir meine Schwester mein Pausenbrot vor. Eine Scheibe Ankerbrot, fingerdick Butter, zweite Scheibe Brot, fertig. Altes Brot, so ungefähr zwei Tage alt. Noch nicht ganz im Eimer, aber definitiv eine Härteprobe für meine von Süßigkeiten malträtierten und Karies befallenen Kinderzähne. Sie wickelt den Ziegel Nahrung in ein Wachspapier und stopft es in eine freie Lücke meiner hoffnungslos überfüllten Kinder Schultasche von Essl. Ich könnte mir eigentlich die Mühe machen und das Ding mal ausmisten, aber erstens bin ich mit diesem Konzept noch nicht vertraut und zweitens könnte ich diese Zeit viel besser nutzen. Mit fernsehen zum Beispiel. 1983 spielt es noch nicht unbedingt viel Brauchbares in unserem 60 kg wiegenden Farb Fernseher von Nordmende, aber immerhin findet sich die gesamte Familie allabendlich im Wohnzimmer ein, um sich TV-Perlen wie “Das Haus am Eaton Place”, “Der Denver Clan”, “Dalli Dalli” oder “Mondbasis Alpha 1” reinzuknallen.
Ich schlüpfe schnell in die für mich vorbereitete Kleidung und ein Blick auf die Wanduhr verrät mir, dass es bereits kurz nach halb acht ist. Zeit, mich auf den Weg zu machen. Der Rest meiner Familie ist bereits ausgeflogen. Meine Schwester hievt mir die tonnenschwere Schultasche auf den Rücken und befördert mich mit einem Wuscheln durch mein gelocktes, braunes Haar und einem sanften Tritt in den Hintern aus unserer 45 Quadratmeter Wohnung auf den Gang des Wohnhauses im 20. Bezirk. Es riecht nach Fäulnis, Wasserschaden und Hundekot. Vor einigen Wochen habe ich eine Nachbarin dabei erwischt, wie sie ihren Hund vor die Kellertür hat scheißen lassen. Es hatte geregnet und scheinbar wollte sie sich auf keinen Fall dem erbarmungslosen Wetter aussetzen. Der Hund, ein widerlicher Pudel mit grau-gelbem Fell, hatte zusammengekauert vor der Tür gesessen und mit nahezu hochrotem Gesicht versucht, seine Notdurft zu verrichten. Man hätte annehmen können, es wäre ihm peinlich. Die Nachbarin, ebenso peinlich berührt, hielt es die darauffolgenden Tage für eine gute Idee jedem der es hören wollte und auch denen, die eigentlich keinen Bock hatten, zu erzählen, sie hätte mich dabei erwischt, wie ich vor die Kellertür gekackt hätte. Mir war es egal, immerhin hatte ich das tatsächlich schon einmal getan, als ich von der Schule heimgekommen war und niemanden daheim antraf.
Als ich durch das Haustor auf die Straße trete, boxen mich Wind, Regen und Schnee ins Gesicht und treiben mich eine zeitlang vor sich her. Ich ziehe meine Wollhaube, die ich unter normalen Umständen schon längst hinter den Mistkübeln in unserem Hof entsorgt hätte, fast bis zu meinem Kinn hinunter und stemme mich mit meinen ganzen 30kg gegen die aufbrausenden Kräfte der Natur. Einmal 20 Meter die Gasse rauf, nach rechts, 30 Meter weiter und schließlich falle ich keuchend in unserer Anker Filiale ein. Die Verkäuferin, eine Mischung aus Bonnie Tyler und Linda Lovelace wirft mir einen gelangweilten Blick zu und wartet, bis ich mich wieder unter Kontrolle habe. Die Zungenspitze seitlich aus meinem Mund hängend durchforste ich meine Hosentaschen nach den paar Schilling, die ich benötige. Ein nicht ganz so einfaches Unterfangen, wenn man bedenkt, dass ich zu der Zeit jeden auch nur ansatzweise nützlichen Gegenstand in meinen Hosentaschen bunkere für den bestimmten Fall. Da finden sich Murmeln in verschiedenen Farben, ein kleines Taschenmesser, ein Radierer, Büroklammern, ein kleiner Magnet, ein Miniatur Revolver, Gummiringerl, ein Schlüsselbund mit Schlüsseln für Sparschweine der S-Bausparkasse, die ich schon lange geleert und entsorgt habe, ein Flummi in rot, ein durchsichtiger Flummi, türkische Münzen und eben besagte Schillinge. Die türkischen Münzen sind es dann auch, die mir gehörig in die Suppe spucken. Ich lade den gesamten Inhalt meiner Hosentaschen auf den Tresen, filtere den aktuell unwichtigen Mist heraus und lasse ihn schnell wieder in meinen tiefen Säcken verschwinden. Als ich endlich bereit bin, sehe ich die Verkäuferin erwartungsvoll an. Sie kaut Kaugummi, was irgendwie obszön aussieht. Nachdem ich jedoch noch nicht weiß, was obszön bedeutet, interpretiere ich ihren Gesichtsausdruck einfach mal als dumm. Ich bestelle ein Tortino, schiebe ihr die Schillingmünzen hinüber wie ein Cowboy, der für einen Whiskey bezahlt und verstaue das gute Stück im letzten freien Winkel meiner Schultasche. EIn Blick auf die Wanduhr – 7:48 Uhr. Oh weia, jetzt aber los!
Auf der Straße begrüßt mich der Winter wieder wie einen alten Saufkumpanen und treibt seine Spielchen mit mir. Ich boxe einige Male gefährlich in die Luft und mache ihm klar, dass ich mich nicht verarschen lasse. Ich laufe über den Zebrastreifen, vorbei an einer in pissgelb gehaltenen Litega FIliale, einer bereits seit Monaten geschlossenen Aida Filiale und meinem aktuellen Favoriten – einer neuen Mondo Filiale. Hier bekommst man Süßigkeiten nahezu sprichwörtlich um ein Butterbrot. Grund genug für mich, hier regelmäßig einzufallen um die mühsam von meinem Vater erschnorrten Münzen in brauchbare Kohlenhydrate umzuwandeln. Alternativ gibt es noch das BonBons Geschäft schräg gegenüber und natürlich die Zuckerltante um die Ecke auf der Klosterneuburgerstraße. Alles extrem wichtige Nahversorger für mich. Ich beginne zu laufen, als ich nur mehr einige Minuten habe, aber alles geht sich locker aus. Die Volksschule Staudingergasse ist im Grunde nur ein paar Minuten von meiner Wohnung entfernt, also kein Grund zur Aufregung.
Kurz vor dem Schultor treffe ich Raimund, meinen besten Freund. Er fingert an einer Playmobil Figur herum und nimmt kaum Notiz von mir. Ich ohrfeige ihn freundschaftlich und ziehe ihn an seinem rechten Ohr hinter mir die Stufen hoch. Zu spät kommen ist mir als Kind schon extrem zuwider. Endlich Garderobe. Schultasche runter, Jacke weg, Schuhe weg, Patschen an, Schultasche rauf, ab in die Klasse. Hier riecht es so widerlich, dass ich den Mund verziehe, ganz so als hätte mir ein Obdachloser mit eitrigem Zahnfleisch in den weit geöffneten Mund gespuckt. Ich beutle mich kurz, setze mich auf meinen Platz und warte auf meine Lehrerin Frau Stangl. Mir fällt auf, dass ich gar nicht weiß, ob sie einen Vornamen hat. Aber nur “Stangl” wäre ja auch seltsam, wer nennt denn sein Kind schon so. Endlich betritt sie die Klasse, frisch geduscht, wohlriechend und mit freundlichem Gesicht. Ich liebe sie.
Sie will sofort als erstes die Aufgabe sehen, die sie uns gestern kurz vor Schulschluss noch reingewürgt hat. Ich erstarre und erbreche ein wenig Magensäure in meinen Mund.
Die Aufgabe!
Ich habe sie tatsächlich vergessen! Das ist mir noch nie passiert! Stinkender Schweiß bricht mir aus und ich fühle mich plötzlich dreckig und nutzlos und schuldig. Während Frau Stangl die Tische durchgeht und die Aufgaben kontrolliert, stelle ich mich auf eine gehörige Standpauke oder vielleicht gar eine veritable Ohrfeige ein. Immerhin haben wir 1983 und bei mir daheim fliegen die Backpfeifen teilweise auch minutiös von den Dächern. Ich kneife die Augen zusammen und schicke ein Stoßgebet in die Wolken. Bitte, bitte, keine arge Strafe, ich passe zukünftig auch auf, dass ich nichts mehr vergesse!
Schließlich erreicht meine Lehrerin meinen Tisch und blickt mich aus freundlichen, riesengroßen, blitzblauen Augen erwartungsvoll an.
“Tortino!”, stammle ich schwitzend und stinkend.
Sie nickt verständnisvoll, aber auf jeden Fall leicht verwirrt und geht einfach weiter. Puh, nochmal Glück gehabt. Ich krame meine Schulsachen aus meiner Tasche, streichle dabei dankbar mein Erdbeer Tortino und fühle mich wieder halbwegs normal.
Ich glaube, das wird heute noch ein richtig guter Tag.