Als Luan Xen das Fischernetz in sein kleines Boot hebt, runzelt er nachdenklich die Stirn. Gerade mal fünf oder sechs kleine Barsche zappeln im glänzend nassen Wirrwarr der verwobenen Nylonfäden – zu wenig, um seine Familie zu ernähren, zu wenig, um sie zum Fischmarkt zu bringen. Verächtlich spuckt er ins Wasser und flucht leise vor sich hin. Er löst die kleinen Fische aus dem Netz und wirft sie in einen kleinen Kübel, den er am Bug des kleinen Bootes befestigt hat und in denen sich bereits zwei kleine Krebse befinden. Der Lohn für acht Stunden Arbeit. Kopfschüttelnd und seufzend lässt sich Luan nieder, schnappt die Ruder und beschließt, es für heute gut sein zu lassen. Manchmal muss man sich eben mit dem zufrieden geben, was man hat. Während er zurück ans Ufer rudert, dankt er Buddha, das er nicht zehn Mäuler zu stopfen hat, wie sein Bruder Dan, der einige Dörfer weiter wohnt. Wie dieser es geschafft hat, diesen unmöglichen Drachen, den er sein Weib nennt, so oft erfolgreich zu schwängern ist ihm ein Rätsel. Immer noch kopfschüttelnd rudert Luan weiter, aber immerhin mit einem schadenfrohen Grinsen im Gesicht.
Nachdem er sein Boot fest am Ufer vertäut und das Netz zum Abtropfen aufgehängt hat, schnappt sich Luan den Kübel mit seiner heutigen Beute und spaziert langsam durch das Dorf zu seinem Haus, während der laue Nachmittagswind angenehm seine von der Sonne gegerbte Haut kühlt. Als er in seinem Garten ankommt, sieht er sich einige Zeit um. Normalerweise spielt sein fünfjähriger Sohn Jin mit seinen Freunden draußen, während seine Frau Hao Wäsche auf- oder abhängt oder sich bei der Feuerstelle vor dem Haus um das Abendessen kümmert. Von beiden ist momentan nichts zu sehen. Luan ruft laut ihre Namen und geht schließlich zum Haus, als er keine Antwort bekommt.
Gerade, als er die Tür öffnen will, geht diese auf und seine Frau kreischt erschrocken auf, um bricht kurz darauf in ein kicherndes Gegacker aus, das an Möwen erinnert.
“Luan! Da bist du ja endlich!”, lacht sie und zieht ihn am Ärmel ins Haus. Überrascht lässt dieser die ungewöhnliche Begrüßung zu und bleibt abrupt stehen, als er eine fremde Person im Raum bemerkt. Es handelt sich um einen alten Mann, mit dreckigem Haar, der in Lumpen gekleidet zu sein scheint. Er steht in der Mitte des Zimmers, hat die Hände vor seiner Brust gefaltet und einen einigermaßen zufriedenen Gesichtsausdruck.
Luan dreht seinen Kopf langsam zu seiner Frau, ohne jedoch seinen Blick von der seltsamen Gestalt abzuwenden.
“Wer ist das?”, flüstert er seiner Frau schließlich leise zu.
Die Lautstärke ignorierend, antwortet ihm Hao beinahe schreiend. “Das ist Meister Ngoc!” Sie scheint automatisch anzunehmen, dass dieser Name Luan geläufig ist, strahlt übers ganze Gesicht und versprüht eine Euphorie, die sich ihr Mann nicht so recht erklären kann.
“Ja, aber was will er hier?”, flüstert Luan weiter.
Hao nähert sich ihm und scheint vor Freude zu zittern. “Er ist wegen Jin hier.”
Luan runzelt zum gefühlten zehnten Mal diesen Tag die Stirn und sieht seine Frau verständnislos an. Was hat dieser alte Knacker mit seinem Sohn zu schaffen? Jin, ihr Sohn ist ein vollkommen normales Kind. Wenn man von seinen gelegentlichen Anfällen absieht, bei denen sich seine Augen nach hinten drehen und weisser Schaum aus seinem Mund rinnt. Auch dass er mit seinen fast sechs Jahren gerade mal eine Handvoll Wörter auszusprechen imstande ist, bereitet Luan nicht weiter Sorgen. Er selber hat auch erst kurz vor seinem fünften Geburtstag begonnen zu sprechen.
Während Luan überlegt, wie er herausfinden kann, was gerade in seinem Haus passiert, macht Meister Ngoc ein paar zaghafte Schritte auf ihn zu und hebt langsam und auf beschwichtigende Art seine Hände. Seine Augen scheinen dabei komplett geschlossen zu sein und ein seltsames Lächeln umspielt seine Lippen.
“Wenn Ihr mir gestattet, will ich meine Anwesenheit in eurem Heim kurz erklären.”, gibt der alte Mann mit einer krächzenden, aber dennoch überraschend tiefen und irgendwie wohlklingenden Stimme von sich. Luan sieht seine Frau an, diese strahlt immer noch und nickt ihn stumm an. “Ihr habt vermutlich noch nicht von mir gehört. Ich stamme aus einem kleinen Dorf im Norden, namens Lingjiaocun. Ich war auf der Durchreise und habe in diesem schönen Dorf kurz Rast eingelegt. Auf dem Hauptplatz habe ich Ihre Frau gebeten, mir den Weg zur nächsten Herberge zu verraten, als wir ins Gespräch kamen. Sie erzählte mir von Ihrem Sohn, Jin.”
“Was ist mit Jin?”, fragt Luan und sieht sich erstmals im Raum um, als ihm klar wird, dass er seinen Sohn noch nicht gesehen hat. Hao, die seine Blicke richtig interpretiert, deutet stumm zur Tür, die in einen kleinen Nebenraum führt. Vermutlich befindet sich ihr Sohn da drin und schläft. Luan atmet erleichtert aus.
“Nun”, fährt Meister Ngoc fort “Hao, Ihre liebe Frau, hat mir verraten, dass Ihr Sohn einige kleine Probleme hat, als ich ihr verriet, dass ich ein Schamane bin, der sich auf die Heilung eben genau diese Art von alltäglichen Unpässlichkeiten spezialisiert hat. Kurzum – ich habe ihr versprochen, Jin zu helfen.” Meister Ngoc hebt die Arme lachend, so als hätte er soeben eine überaus frohe Nachricht überbracht. Luan spürt, wie sich seine Nackenhaare unangenehm aufrichten und ein eiskalter Schauer über seinen Körper jagt. Langsam wird ihm klar, was das hier werden soll und er beschließt auf der Stelle, seiner Frau gehörig die Leviten zu lesen, sobald er diesen dreisten Scharlatan, der ihnen sicher Geld aus dem Kreuz leiern will, aus ihrem Heim verjagt hat. Gerade, als er ansetzen will und einen Schritt auf den alten Mann zu macht, hebt dieser einen Zeigefinger.
“Ich möchte, dass Ihr wisst, dass meine Dienste keinerlei Gegenleistung verlangen. Was ich tue, tue ich aus tiefster Überzeugung und um meinen Mitmenschen zu helfen. Ihr braucht euch also keine Gedanken über irgendeine Art der Kompensation zu machen.”
Luan stoppt abrupt und kommt sich irgendwie ertappt vor. Als hätte Meister Ngoc seine Gedanken gelesen. “Was wollt ihr tun?”, ist schließlich seine Frage.
Meister Ngoc nimmt Luan am Arm und zieht ihn zu sich. Sie stecken die Köpfe zusammen und der alte Mann erklärt dem Fischer, dass er lediglich ein paar kleine Honigwaben benötigt, die er drei Tage hintereinander zu kauen beabsichtigt, ehe er sie, gebraten mit einigen Schwalbennestern, ihrem Sohn zu verabreichen gedenkt. “Die Schwalbennester unbedingt von südlich ausgerichteten Häusern”, gibt er zu bedenken. Eine kleine Flasche Pfeffer Wein und etwas Schweineleber sind ebenso notwendig, sowie eine Handvoll Engerlinge. Die Liste an Gegenständen scheint kein Ende zu nehmen und je länger sie wird, desto mehr Sinn macht sie für Luan, der sich hingesetzt hat und immer aufgeregter zuhört. Ja, all diese Dinge werden mit Sicherheit dazu führen, dass Jin endlich zu reden beginnt. Lachend springt Luan schließlich auf, dankt dem alten Mann, führt einen kleinen Freudentanz mit seiner Frau auf und rennt lachend aus dem Haus, um die Sachen zu besorgen.
Hao dankt Meister Ngoc erneut und bietet ihm an, die von seinem Mann gefangenen Fische und Krebse als Abendbrot zuzubereiten. Der Heiler nickt und dankt der Frau demütig. Diese jauchzt glücklich und macht sich sofort an die Arbeit.
Der alte Mann verlässt den Raum und setzt sich vor dem Haus auf einen Hocker. Die Nachmittagssonne wärmt sein Gesicht, während er sich ausrechnet, wieviele Tage er auf Kosten dieser dummen Bauern leben kann und ein zufriedenes Lächeln erscheint auf seinem Gesicht. Dass er dieses Kind heilen kann, steht für ihn außer Frage. Immerhin eilt ihm sein Ruf voraus und er hat bereits Hunderte Menschen geheilt. Wie er das macht, ist ihm selber nicht so ganz klar, aber manches hinterfragt man eben einfach nicht.
Meister Ngocs Magen beginnt leise zu knurren, als Luans Frau die ersten Fische im Wok zu braten beginnt. Immer noch lächelnd lehnt er sich an die Hausmauer und freut sich auf ein zweifellos großartiges Mahl.