Payday

Ernesto saß auf der Pritsche und beobachtete die Kakerlake, die kurz zuvor unter der rostigen Tür hervorgekrochen war. Sie blieb kurz stehen, streckte ihre langen Fühler in die Höhe, sondierte die Lage und krabbelte zielsicher in eine Ecke der dreckigen Garderobe, so als würde dort ein reich gedecktes Buffet auf sie warten. Ernesto bewunderte stumm ihren schwarz-blau schimmernden Rückenpanzer, als sie unter ihm hindurch kroch und wünschte sich zum wiederholten Male, er wäre woanders und nicht in diesem Höllenloch.

Durch die geschlossene Metalltür hörte er das gedämpfte Geschrei der Menge und ihre Anfeuerungsversuche, denen einige Sekunden danach frenetischer Applaus und Gejohle folgten. Sie schienen etwas für ihr Geld geboten zu bekommen. Ernesto schauderte bei dem Gedanken, selber vor der blutrünstigen Meute zu stehen und bezweifelte stark, ihnen das Spektakel bieten zu können, das sie von ihm erwarteten. Aber er hatte keine Wahl. Wer einen Deal mit dem Teufel eingeht, für den gibt es kein Zurück.

Ernesto sprang auf und begann sich im Halbdunkel aufzuwärmen. Er schickte seine Fäuste zischend in die Luft, jabbte eine unsichtbare Person aufs Kinn und drehte sich dabei ständig um die eigene Achse um so wenig Angriffsfläche wie möglich zu bieten. Er tänzelte hin und her und bearbeitete seinen nicht vorhandenen Gegner nach allen Regeln der Boxkunst, ganz so wie es ihm sein Vater beigebracht hatte. Er hörte Schritte, ehe die alte Tür laut quietschend geöffnet wurde. Der ihm zugewiesene Mitarbeiter, Juan, streckte sein verschwitzes Gesicht durch den Spalt und hielt ihm drei ausgestreckte Finger hin.

“Drei Minuten noch, cabrón!”

Ernesto nickte stumm und wärmte sich weiter auf. Wie aus heiterem Himmel schwappte eine Welle aus Panik über ihn und raubte ihm für einige Sekunden den Atem. Er ging keuchend in die Knie, schloss die Augen und versuchte seinen Atem wieder zu normalisieren. Juan warf ihm durch den Türspalt argwöhnische Blicke zu und runzelte die Stirn zu einem unfassbar faszinierenden Geflecht aus Haut und Falten, das Ernesto beinahe hysterisch auflachen ließ.

“Reiss dich zusammen, Arschloch!”, murmelte er leise vor sich hin und kam wieder auf die Beine.

“Kriegst du das hin?”, fragte ihn Juan schnaufend.

Ernesto schickte eine rechts-links Kombination an Fäusten in die Luft, gefolgt von einigen Schwingern und einem höllischen Uppercut, der jeden Gegner aus seinen Schuhen befördert hätte, drehte sich schwer atmend zum Türspalt und nickte stumm.

* * * * *

Die Menschenmenge, die ihn erwartete klang durch den dunklen Tunnel, den sie entlang gingen, größer als sie eigentlich war. Als Ernesto den provisorischen Ring erreichte, den sie extra für den Abend errichtet hatten, standen gerade mal an die fünfzig, teils schwer angeheiterte, Gäste herum und schrien ihm aufmunternde Sachen entgegen, von denen er kein einziges Wort verstand. Ernesto fiel das ganze Blut auf dem Boden der stillgelegten Tiefgarage auf und er schluckte nervös. Er blendete das Geschrei so gut es ging aus, verzog sich in seine Ecke und fuhr fort, sich mit leichten Jabs warm zu halten.

Die Frage, wie er sich in diese Situation hatte manövrieren können, stellte er sich nicht mehr. Schon gar nicht heute Abend. Wer essen möchte, braucht Geld. Wer Schulden macht, muss dieses Geld zurückzahlen. Er musste all seinen Verstand frei von Vorwürfen halten, damit er das hier heil überstand. Ständig blitzte das Gesicht seiner kleinen Tochter Sofia in seinem Kopf auf und ließ ihn zusammenzucken. Der Gedanke, dass er sie in Gefahr gebracht hatte, schnürte ihm erneut den Hals zu, als er wischte alle Bilder in seinem Kopf mit heftigem Zucken seines Kopfes beiseite und flüsterte sich durch den Lärm der Menge selber Mut zu.

“Du schaffst das! Du schaffst das! Du schaffst das!”

Als das Geschrei erneut anschwoll und tosender Applaus folgte, wusste Ernesto, dass sich sein Gegner im Anmarsch befand. Iker Santiago. Eine fleischgewordene Maschine, deren einzige Aufgabe es zu sein schien, seine Gegner in Grund und Boden zu stampfen. Niemand hatte ihn bisher bei diesen Untergrund Kämpfen geschlagen, auch wenn Gerüchte die Runde gemacht hatten, dass ihn der eine oder andere bereits umgehauen hatte. Ernesto glaubte fest daran, dass er ihn schlagen konnte. Sein Leben hing davon ab. Das Überleben seiner Familie hing davon ab. Und letzten Endes auch das Leben seiner Tochter Sofia, die fünf Meter über dem Ring an einem extra angebrachten Betonvorsprung angekettet war und weinend darauf wartete, dass ihr Vater alles ins einer Macht stehende tun würde, um sie aus dieser Situation zu retten. Ernesto warf seiner kleinen Tochter einen kurzen Blick zu und wandte sofort den Blick ab, ehe der Anblick dazu führte, dass eine Hand aus Verzweiflung und Angst sein Herz zu einem blutigen Klumpen zusammenquetschte. Er konzentrierte sich auf Santiago, der zwischenzeitlich in den Ring gestiegen war und ihm amüsierte Blicke zuwarf. Er war sich seiner Sache sicher. Ernesto stellte keine Bedrohung für ihn dar.

Die nächsten Minuten vergingen wie in Trance für Ernesto. Er beobachtete wie durch eine Blase, wie alles vorbereitet wurde und Don Sebastián, der Veranstalter dieser Kämpfe, seine Gäste begrüßte und nur lobende Worte für die Kämpfer fand, die in wenigen Minuten um ihr Leben und das ihrer Kinder kämpfen würden. Er stellte beiden erneut die Unsummen an Preisgeld in Aussicht, das sie mit nach Hause nehmen würden und empfahl beiden, bis zum Letzten zu Gehen. Ernesto grunzte. Seine Tochter von diesem Vorsprung zu retten schien ihm Motivation genug. Er schloss kurz seine Augen und schickte ein Stoßgebet zum Himmel.

Den Gong spürte er mehr, als er ihn hörte. Als er seine Augen schnell öffnete, stand sein Gegner bereits vor ihm und bearbeitete ihn mit mehreren Kombinationen aus Kopf- und Körpertreffern die Ernesto kurz glauben ließen, Iker verfüge tatsächlich über mehr als die handelsüblichen zwei Fäuste. Innerhalb kurzer Zeit war Ernestos Gesicht blutverschmiert und sein rechtes Auge begann sich bereits zu schließen. Er kämpfte sich aus seiner Ringecke frei, schnaufte durch und begann Iker mit einigen blitzschnellen Jabs ins Gesicht zu bearbeiten, die bei jedem Aufprall zu explodieren schienen. Das knallende Geräusch ließ die Menge laut johlen und sie quittierten Ernestos Mut mit tosendem Applaus. Eine Weile lief es ganz gut. Iker zog sich etwas zurück und schien zu merken, dass es sich bei seinem Gegner um jemanden mit Boxerfahrung handelte und eine etwas zurückhaltende Vorgehensweise vermutlich angebrachter wäre. Es folgte ein technischer Kampf, der das Publikum bestens bei Laune hielt, der aber über kurz oder lang gar nicht anders konnte, als in einer unfairen Attacke zu enden.

Ernesto hatte begonnen Santiagos Leber mit kurzen, harten Schlägen zu bearbeiten und langsam aber sicher zeigten diese auch Wirkung. Iker schützte öfter die Körperseite, wodurch er seine hohe Deckung vernachlässigen musste. Doch bevor Ernesto zu seinem geplanten Schwinger ansetzen konnte, machte sein Gegner einen Ausfallschritt auf ihn zu und donnerte seine Stirn mit so viel Karacho in Ernestos Gesicht, dass dieser durch den halben Ring segelte, ehe er hart auf den Beton aufschlug, die Nase zu einem klumpigen Haufen zerschlagen. Die Meute verlor komplett ihren Verstand, der Lärm war ohrenbetäubend. Während Ernesto sich mühsam auf den Bauch rollte, um wieder auf die Beine zu kommen, nahm Iker Anlauf und trat ihm mit voller Wucht gegen den Kopf.

Sofia.

Aus Ohren, Nase und Mund blutend, kroch Ernesto in die nächstgelegene Ecke, um sich zu sammeln. Blut plätscherte wie aus einem Gartenschlauch von seinem Gesicht und er spürte ein Kribbeln in seinen Beinen, die ihm seltsamerweise nicht mehr gehorchen wollten. Er schaffte es grunzend in eine hockende Position und sah den grinsenden Iker mit hochgereckten Armen und von einem Ohr zum nächsten grinsend langsam auf ihn zukommen.

Sofia!

Ein Blick auf seine Tochter und Ernesto hatte wieder genug Kraft in den Beinen um hochzukommen. Gerade rechtzeitig, um sich dem Faust-Bombardement Ikers zu stellen, der bereit war, diesen Kampf zu beenden.

Die Schläge spürte Ernesto kaum noch. Es war beinahe so, als würde ihn jemand mit einem Polster anstupsen. Ein tiefes Bedauern, sich auf diese Sache eingelassen zu haben, überkam ihn und plötzlich war ihm klar, dass er sterben würde. Er kassierte Treffer, die ein normaler Mensch schon lange nicht mehr hätte wegstecken können und klammerte sich so oft er es schaffte an seinen Gegner, der sich nun im Blutrausch befand und Ernestos Körper, der sich standhaft weigerte umzufallen, mit allem was er hatte traktierte.

Sofia!

Das letzte, was Ernesto noch mitbekam, war das knirschende Geräusch, das sein Kiefer beim letzten Schwinger Ikers von sich gab, ehe er an mehreren Stellen brach und Ernestos toter Körper fiel schließlich in sich zusammen wie ein Sack. Die Menge applaudierte dem amtierenden Champion, der stolz die Arme reckte und keuchend einen Koffer mit Geld übernahm, ehe er sich in seine Garderobe verzog, zu der ihm sein Publikum laut feiernd folgte.

Die Strafe, die Sofia für das Versagen ihres Vaters aus einer 38’er aus nächster Nähe erhielt, beobachtete niemand.

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