Am 17. Juli 1983, irgendwann gegen 11 Uhr vormittags, befinde ich mich in der Stadt Karasu, an der Nordküste der Türkei, am Schwarzen Meer gelegen. Mein Vater hat sich nach langem Hin und Her entschieden, die gesamte Familie in unseren orangefarbenen Opel Kombi zu stopfen und zum Strand zu fahren. Die Fahrt dauert eine knappe Stunde und auf dem Weg singen wir gröhlend und lachen viel zu laut und viel zu lange und bringen unsere Eltern so an den Rand eines Nervenzusammenbruchs. Klimaanlagen wurden noch nicht erfunden und der Fahrtwind, der uns aus den geöffneten Autofenstern ins Gesicht bläst, hat gefühlte 45 Grad und verpasst unseren blassen Stadtgesichtern ein feines, sandstrahlbehandeltes Rosa, das die Sonne im Laufe des Tages in ein sattes dunkelrot verwandeln wird. Aber das wissen wir zu diesem Zeitpunkt noch nicht.
Mein drei Jahre älterer Bruder und ich sitzen zwischen unseren großen Geschwistern eingepfercht, natürlich nicht angeschnallt, und diskutieren darüber, welcher türkischer Schokoriegel der beste ist.
“Keine Frage”, raunt er verächtlich “Çokonat ist mit Abstand der geilste!”. Çokonat hat Nüsse drin und eine Waffel. Also, wirklich.
Ich lache laut und halte mir demonstrativ den nicht vorhandenen Bauch. “So ein Blödsinn! Nichts geht über Çokomel!”
Er deutet mir den Vogel.
Während ich ihm die Vorzüge einer Paarung von Schokolade und Karamel erkläre und mein Plädoyer für die billige Mars-Riegel Kopie halte fährt mein Vater irgendwann langsam am Strand von Karasu ein und unser hässliches Auto hält endlich an einem verdächtig illegal aussehenden Parkplatz. Ich rattere den Rest meiner glühenden Ansprache herunter und wir alle machen eine Hechtrolle aus dem Wagen, um uns die nähere Umgebung anzusehen.
Es ist heiß. Es ist grell. Es ist laut. Und es ist heiß.
Meine Güte, es ist so heiß, dass ich die Hitze des Sandes unter meinen Füßen durch die dicke Sohle meiner billigen Turnschuhe spüren kann. Unsere Mutter macht “Off!” und fächert sich mit einer zusammengefalteten Zeitung Luft zu, während unser Vater seinen Unmut über die Affenhitze mit einem langgezogenen “Öfffffff!” kundtut. Danach geht alles sehr schnell. Badetücher werden herumgereicht und mein Vater drückt jedem von uns Kindern schnell ein paar Geldscheine türkische Lira in die ausgetreckten Hände.
“Kauft euch damit was zu trinken, wenn ihr Durst habt. Eure Mutter und ich sitzen da drüben.”
Er deutet auf die überdachte, schattige Terrasse eines großen Kaffeehauses, das direkt am Strand liegt und das ihn überhaupt erst dazu bewogen haben dürfte, hier Halt zu machen. Wir schnappen uns das Geld und rennen johlend zum Strand. Bereits jetzt spüre ich ein seltsames Kribbeln auf meinem Gesicht, aber ich verschwende keine weitere Sekunde damit, mir deswegen die Laune verderben zu lassen. Wir ziehen unsere Liebestöter in einer wackeligen Holzhütte aus und schlüpfen in viel zu große Badehosen, die neongelb und der absolut heiße Scheiß in Österreich sind. Als wir die Hütte verlassen, sehen uns einige Leute so entgeistert auf die Hosen, dass ich kurz verunsichert überprüfe, ob mir eh nirgendwo etwas heraushängt.
Nein, alles dort, wo es hingehört. Let’s rock!
Während unsere Oberkörper in der erbarmungslosen Sommersonne leise zu zischen beginnen – Sonnencreme ist in den Achtzigern in der Türkei genauso wie Klimaanlagen Mangelware – sprinten wir in die Wellen und spritzen uns gegenseitig lauwarmes, salziges Wasser ins Gesicht. Der Abkühlungseffekt lässt massiv zu wünschen übrig und enttäuscht versuche ich mit einem Rundumblick herauszufinden, wie man sich an diesem Ort halbwegs erfrischen kann. Mein schwarzes, kurzes Haar beginnt gelegentlich zu knistern und ich tauche meinen Kopf schnell ins Wasser ein. Danach beschließe ich, einfach ins Meer hinaus zu waten, irgendwann muss das Wasser doch kühler werden. Meine drei Geschwister bleiben am Strand zurück und mein ältester Bruder warnt mich noch, mich nicht zu weit zu entfernen, er würde ungern meinen aufgequollenen Körper identifizieren müssen. Ich raune ihm ein Jajaja zu und gehe ins offene Meer hinaus.
An dieser Stelle ist es wichtig, kurze Informationen über das Phänomen des türkischen Frühstücks bereitzustellen. Dieses besteht nämlich im Gegensatz zu vielen anderen nationalen Frühstücksvariationen nicht immer aus ähnlichen Elementen, sondern kann im Grunde aus allem bestehen, was auch nur im Entferntesten essbar erscheint. Gemüseeintopf vom gestrigen Abend? Her damit! Flach geklopfte Rindschnitzel übrig geblieben? In der Pfanne braten! Massig Erdäpfel vorhanden? Schälen, schneiden und ab ins heiße Öl damit! Spiegeleier, Knoblauchwurst, Oliven, Käse, Tomaten, Gurken, Paprika – alles großartige Ergänzungen! Meine Mutter hat an diesem Vormittag ein Frühstück hergerichtet, das an Grandiosität und Abwechslungsreichtum schwer übertroffen werden konnte. Ein Element muss an dieser Stelle besonders erwähnt werden: eine Hühnerleber Pfanne mit massig Zwiebeln und scharfen Pfefferoni, die uns bereits beim Abendessen letzte Nacht gehörig eingeheizt hat. Für mich, als absoluten Leber-Connaisseur war es quasi Pflicht, mir die letzten Reste dieser Köstlichkeit zum Frühstück einzuverleiben. Dann noch massig schwarzen Tee dazu und nichts konnte uns noch den Tag vermiesen.
Fetzen dieser Leber hängen mir noch zwischen den Zähnen, als ich mich langsam und tapfer den Wellen entgegen stemme. Gut 30 Meter weiter drehe ich mich um und stelle erstaunt fest, wie weit ich schon gekommen bin. Das Meer geht mir aber immer noch nicht über die Hüfte. Ich winke meinen Geschwistern am Strand zu. Sie haben begonnen, sich gegenseitig mit Sandbällen zu schmeißen und lachen laut. Das Zischen auf meinen schneeweißen Schultern, die plötzlich einen roten Farbton angenommen haben, wird etwas lauter und ich frage mich, ob dieses Geräusch normal ist. Schulterzuckend gehe ich schließlich weiter, auf der Suche nach Abkühlung.
Die Leberpfanne meiner Mutter ist legendär. Sie brät kleingehackte Zwiebeln und scharfe Pfefferoni in massig Olivenöl an und schmeißt danach die streifig geschnittene Hühnerleber dazu. Dann noch je einen Löffel Tomaten- und Paprikamark, etwas Wasser und die üblichen Gewürze wie Salz, Pfeffer und Thymian plus eine Handvoll gehackte Petersilie und ein paar Spritzer frisch gepressten Zitronensaft, und fertig ist ein Gericht, das einfach zu kochen ist, aber gleichzeitig über unglaublich komplexe Aromen verfügt. Der Einsatz von scharfen Chilis oder Spitzpaprika ist an dieser Stelle nicht genug hervorzuheben, schließlich sind sie die Seele dieses Pfannengerichts.
Das erste Mal, als ich das Grummeln in meinem Bauch verspüre, denke ich mir noch nicht viel dabei. Ich grabe meine zehnjährigen Kinderzehen fest in den Sand unter Wasser und kämpfe mich tapfer weiter. Das ständige Wehklagen meines Verdauungstraktes sorgt jedoch schließlich dafür, dass ich stirnrunzelnd stehenbleibe und den Blick nach unten richte, ganz so, als könnte ich damit auch nur irgendetwas Sinnvolles bewirken.
Schließlich nicke ich stumm, es ist eindeutig. Ich muss scheißen.
Wir reden hier aber nicht von einer Dünnschiss Attacke, wie sie gerne nach einem scharfen Mahl eintritt. Nein, mein Körper hat sich schon längst an die scharfe Küche meiner Mutter gewöhnt, flüssig kommt bei mir nur vorne etwas raus. Der Grummel Alarm ist einfach nur das Signal meines Körpers an mich, mir in den nächsten zwei Minuten ein Klo zu suchen.
An einem Ort, den ich nicht kenne. An einem Strand, an dem ich noch nie war. Inmitten von tausenden Menschen, die sich im Wasser und im Sand tummeln, mitten im Meer, mittlerweile fünfzig Meter vom Ufer entfernt, die Wellen bis zu meinem kleinen Arsch hoch.
Ein verzweifelter Blick in Richtung meiner Geschwister lässt mein Herz sinken – sie sind weg! Obwohl ich mir sicher bin, dass sie sich nicht weit entfernt haben können – sie würden mich niemals unbeaufsichtigt lassen – bricht mir doch sofort der Angstschweiß aus, als mir die Peinlichkeit meiner Situation bewusst wird. Die Augen mit meiner flachen Hand abgeschirmt, suche ich den Strand ab, aber nirgends kann ich etwas entdecken, das einer Toilette auch nur ähnlich sieht. In diesem Moment beschließt mein Enddarm seinen Inhalt einfach ruckartig ein paar Zentimeter in Richtung Ausgang zu schieben. Panisch zwicke ich meine Arschbacken zusammen und spanne meine Oberschenkelmuskulatur an.
Nein, an den Strand schaffe ich es auf keinen Fall. Und selbst wenn, stehen da Menschen herum und ich habe keine Ahnung, wo ich hinmuss. Das Kaffeehaus, in dem meine Eltern im Schatten sitzen und eisgekühlte Getränke konsumieren, erreiche ich ebenfalls niemals rechtzeitig. Seufzend wende ich mich wieder dem offenen Meer zu und beobachte den Wellengang. Ich zähle, in welchem Abstand die Wellen auf mich zurollen. Die weiße Gischt klatscht mir gegen den Bauch, ehe der Rest weiter in Richtung Strand schwimmt. Ein Plan beginnt in meinem Kopf Formen anzunehmen. Ich sehe noch einmal zum Strand zurück, die größte Menschengruppe ist mindestens 30 Meter von mir entfernt. Ich addiere Sekunden und berechne das Zeitfenster, das mir zur Verfügung steht. Schließlich gehe ich noch weitere zehn Schritte, ignoriere meinen knurrendem Darmtrakt so gut es geht und stemme meine Füße breitbeinig in den Sand. Da kommt die nächste Welle. Während ich langsam in die Knie gehe, greifen meine Hände seitlich in den Bund meiner Badehose und ich beginne zu zählen. Da vorne kommt schon die nächste Welle! Uuuuund… los!
Als mich die Welle erwischt, bin ich bereits in die Hocke gegangen. Gleichzeitig habe ich mir meine Badehose bis zu den Knien heruntergeschoben und meinen Hintern so weit nach außen geschoben, dass ein kurzes Andrücken reicht, um meinen gesamten Darminhalt innerhalb einer Sekunde torpedoartig aus meinem Arsch zu katapultieren.
Als ich mich nach einer Sekunde wieder aufrichte, sitzt die Badehose schon längst wieder dort, wo sie hin muss. Ich drehe mich um und blicke meiner Wurst mit zusammengekniffenen Augen nach, während sie tatsächlich wie ein kleines Surfbrett auf der Welle in Richtung Strand schwimmt.
Ich verlasse den Tatort, als wäre nichts passiert und wasche mir in einem günstig erscheinenden Moment den eingesauten Hintern in einem weiteren gewagten Manöver und spaziere schließlich wieder in Richtung Strand, um meine Geschwister zu suchen.
Diese sitzen auch nicht unweit von der Stelle, an der wir ins Wasser gegangen sind, mit knallroten Köpfen und Oberkörpern in der prallen Sonne und grinsen mich an.
“Na, du!”, lacht mein ältester Bruder.
“Paar Kniebeugen gemacht?”, kichert meine Schwester.
“Alter, das Ding ist so groß wie ein Ast!”, prustet mein jüngerer Bruder und hält sich vor Lachen den Bauch. Er deutet mit dem Zeigefinger in eine Richtung und als ich den Kopf wende, stehen da einige Leute mit ernstem Gesicht, die Arme energisch in die Seiten gestemmt und lassen den Blick in alle Himmelsrichtungen schweifen, während sie versuchen herauszufinden, welche Drecksau diese Kackwurst in der Größe eines Baumstamms am Strand hinterlassen hat.
Ich versuche so unschuldig wie es nur irgendwie geht dreinzuschauen und setze mich mit knallrotem Gesicht zwischen meine Geschwister. Ich weiß, dass sie eher sterben würden, als zuzulassen, dass mir etwas geschieht, aber sie scheinen das Ganze furchtbar lustig zu finden und sehen scheinbar keinen Grund zur Sorge.
“Das Ding sieht aus wie ein Riesen-Çokomel!”, lacht mein jüngerer Bruder erneut auf und wir alle stimmen ein und lachen uns so lange kaputt, bis uns die Sonne die Gesichter, Schultern, Rücken, Arme und Beine knallrot eingefärbt hat.
Abends können wir uns alle kaum bewegen und sitzen steif auf der Couch. Wir sind rot wie gekochte Hummer und unsere Mutter hat uns kaltes Joghurt auf den Rücken geschmiert und Klarsichtfolie draufgeklatscht. Wir sehen uns eine angestaubte türkische Komödie an und alle paar Sekunden stöhnt einer von uns auf, als sich jemand auf der Couch bewegt.
Schließlich kommt unsere Mutter ins Wohnzimmer und stellt uns eine Schüssel mit Süßigkeiten hin. Ich sehe die schwarz-goldene Verpackung zuerst und schnappe mir sofort den Riegel, nur um sofort laut aufzuschreien, als sich meine malträtierte Haut zu Wort meldet. Ich falle um wie ein Sack Kartoffeln, die Augen tränend, und halte gleichzeitig einen Çokomel Riegel hoch.
Wir lachen den restlichen Abend bis tief in die Nacht hinein und die nächsten Jahre soll es uns unmöglich sein, einen Schokoriegel zu essen, ohne an diesen Tag am Meer zu denken.
Aber das wissen wir zu diesem Zeitpunkt noch nicht.