Bruder III

Als wir den Praterstern überqueren und uns langsam dem Riesenrad nähern, das langsam und bedächtig seine Runden dreht, weht mir der altbekannte Duft des Wiener Praters entgegen. Es riecht nach altem Holz, Kettenfett, Zuckerwatte und dem gelegentlichen Hallo von Urin und Erbrochenem. Mein Bruder und ich steigen über leere Bierflaschen, weichen schlafenden Obdachlosen aus, passieren das erste Autodrom und biegen in die Straße des ersten Mai ein. Wir werfen uns grinsend einen kurzen Blick zu. Endlich da!

1987 ist der Wiener Prater noch Welten vom Sauberimage entfernt, das wir heute kennen. Die Attraktionen sind alt, die Buden einigermaßen verlebt, ein durchgehendes sehnsüchtiges Gefühl von Geschichte und Leben weht sanft durch die dreckigen Straßen und der leise Ruf von Spiel, Spannung und Verbotenem bringt uns immer wieder dazu, den weiten Weg auf uns zu nehmen um unseren Tag in einer der zahlreichen Spielhallen zu verbringen. Unsere Hosentaschen sind gefüllt mit Fünf-Schilling Münzen, die wir aus der großen Messing Spardose unseres Vaters gestohlen haben und die Vorfreude, uns an den unterschiedlichsten Spielautomaten zu versuchen, lässt unsere Fingerspitzen aufgeregt vibrieren. 

Wir haben unterschiedliche Schwerpunkte, mein Bruder und ich. Während er einem Flipperautomaten (egal welchem, er widmet sich jedem einzelnen mit der gleichen stoischen Ruhe und Aufmerksamkeit) unglaubliche Highscores und Freispiele zu entlocken vermag, habe ich mich darauf spezialisiert, den Jump and Run Videoautomaten zu zeigen, was Sache ist. Aktuell versuche ich Super Mario Bros. irgendwie fertig zu spielen. Ich hänge im letzten Burg-Level, wo mir eine unfassbar hinterhältige Kombination von Lava Bällen ständig den Garaus macht. Das soll sich heute ändern. Ich habe eine Strategie, die mir letztens auf dem Klo eingefallen ist und von der ich mir verspreche, dass sie mir endlich den ersehnten Triumph über diesen Automaten ermöglicht. 

Man kann ruhigen Gewissens behaupten, dass uns jede Ausrede recht ist, hierher zu kommen. Daheim gibt es nur Geschrei, Schläge, depressive Stimmung. Sobald wir hier sind, verschwinden die Sorgen des Alltags hinter Schießbuden, Würstlständen, Flipperbuden und der Aussicht, zur Legende zu werden, sobald man einen Highscore erzielt oder ein Videospiel meistert. Wenngleich es 1985 mehrere Spielhallen gibt, die ein buntes Programm unterschiedlicher Automaten anbieten – die Fortuna Halle, das Hommerson, das Las Vegas – so zieht es uns doch ständig in unser inoffizielles Wohnzimmer – die Flipperzentrale. Im Herzen des Wurstelpraters gelegen, beherbergt diese Institution Klassiker wie Frogger, Space Invaders, Pac Man oder Kung Fu, sowie neue Titel wie Dragons Lair oder Outrun, die stets für einen massiven Auflauf pubertierender Halbstarker bei den jeweiligen Automaten sorgen. Die Halle besteht aus einem langen rechteckigen Raum, dessen Boden tatsächlich Sägespäne zieren und deren Zustand mit zunehmender Stunde immer schlimmer wird, während sich die Farbe von frischem Hellbraun immer mehr in Richtung dunkelgrau bewegt. Während im hinteren Bereich einige Billardtische und Wuzzler-Tische von älterem Publikum frequentiert werden, kümmert sich das Gros der Besucher um die bereits erwähnten Videospiel-Automaten und Flipper. Die Anzahl der Automaten ist für uns gigantisch, es ist für jeden Tag und jede Stimmung etwas dabei. Dabei geht es weniger darum, alle Spiele wirklich zu Ende zu spielen. Dazu reichen weder unsere Geduld, noch unsere finanziellen Mittel. Wir wollen einfach nur wissen, was sich in Sachen Videospiele tut, wir wollen in den Schulpausen mitreden können. Super Mario Bros. jedoch hat es mir voll angetan und nachts liege ich auf meiner Couch im Wohnzimmer und gehe in Gedanken die Levels durch, damit ich beim nächsten Versuch noch weiter komme, bis ich dieses elendige Spiel endlich ad acta legen kann. Was danach kommt, weiß ich noch nicht, habe mir noch nicht mal Gedanken darüber gemacht. Tatsache ist, ich muss dieses Spiel fertig spielen, noch nie war ich so nahe dran, einen Automaten in der Halle bis zum Ende zu spielen.

Wir passieren die meisten Buden, ohne viel davon zur Kenntnis zu nehmen. Es ist warm, die Sonne scheint, wir haben Ferien. Während wir einander von unseren Strategien erzählen, arbeiten sich unsere Eltern auf einer Baustelle respektive in der Küche einer Bank die Buckel krumm. Das Geld reicht gerade, um die Familie zu ernähren und ein wenig zu sparen, damit wir uns ein Grundstück in der Türkei kaufen können, das uns windige Verwandte kurz darauf abluchsen werden, bis nichts mehr davon übrig ist. Aber das wissen wir damals noch nicht. Was unser Vater tun wird, wenn er merkt, dass wir Kleingeld aus seiner wertvollen Spardose klauen, interessiert uns genauso wenig, wie was wir unseren Eltern darüber erzählen, wo wir den Tag verbracht haben. Es interessiert keine Sau, wo wir waren. Es interessiert niemanden, was wir den ganzen Tag gemacht haben. Daily Business sozusagen.

Als wir bei der Flipperzentrale ankommen, ist die Halle bereits gut gefüllt. Unzählige Teenager füttern die unterschiedlichen Automaten, die eine riesige Klangkulisse schräger Geräusche und Soundeffekte hervorbringen. Mein Bruder zwinkert mir kurz zu und nimmt sofort vor seinem Flipper Platz, der zufällig frei ist und den klingenden Namen High Speed trägt. Er hat mir öfter versucht zu erklären, dass man auch bei einem Flipper bestimmte Regeln befolgen und gezielt Aufgaben erledigen muss, um an die fetten Punkte zu kommen. Aber ich verstehe nur Bahnhof.  Der Sinn, eine Metallkugel in einem Kasten herumzuschleudern und bestimmte Ziele zu treffen, erschließt sich mir nicht einmal annähernd. Während er also den Automaten mit einer Münze füttert, gehe ich zum Objekt meiner Wahl und muss zähneknirschend feststellen, dass der Automat besetzt ist. Ein Typ mit rosa Shirt hat scheinbar das gleiche Vorhaben wie ich, es sieht so aus, als wüßte er genau, was er tut. Ich seufze laut, als ich feststelle, dass das hier wohl noch eine Weile dauern wird. 

Es ist schwierig, jemandem, der den Prater in den Achtzigern nicht gesehen hat, zu erklären, was es für ein Gefühl war, ihn damals zu besuchen. Der beste Vergleich, den man ziehen kann, wäre wohl mit dem Times Square in New York. Dieser stellte früher auch den Rotlichtbezirk New Yorks dar und die heute so beliebte und gut besuchte Location war übersät mit Sexläden, Striptease-Lokalen, Zuhältern, Prostituierten, Drogenhändlern und -süchtigen und anderem zwielichtigen Volk. Fotos aus der Era zeigen eindeutig, womit man rechnen musste, wenn man in den Siebzigern durch den Times Square ging. Einige Jahrzehnte später ist davon nichts mehr zu spüren. Alles Hochglanz, alles sauber, alles Familie, alles jugendfrei. Aber so steril wie eine frisch geöffnete Einwegspritze. Kein Charme, keine Aufregung, kein Vibrieren in den Fingerspitzen mehr. Das gleiche ist, wenn man so will, dem Wiener Wurstelprater passiert. Im Bemühen, so viele Menschen wie möglich anzulocken, wurde aus dem ehemaligen Hinterhof Wiens, das Menschen unterschiedlichster Couleur und Herkunft anlockte, ein furztrockener, aufpolierter, langweiliger Abklatsch eines Vergnügungsparks, der jeden Funken Charakter und Seele vermissen lässt. Die Spielhallen verschwanden sukzessive und machten irgendwelchen unsinnigen Buden Platz, deren einzige Aufgabe es war, den Gästen das Geld mit irgendwelchen billigen, in China produzierten Stofftieren, aus der Tasche zu ziehen, indem sie Tickets kauften und diese dann gegen Preise eintauschten. Nichts lässt sich mit dem Gefühl vergleichen, 1987 in den Wiener Wurstelprater einzumarschieren. Seine Luft einzuatmen. Ein Geruch, den ich bis heute nicht noch einmal irgendwo wahrnehmen konnte. Ein Gefühl der Freude, der Aufregung, des Heimkommens, obwohl jeder Tag durchaus das Potential hatte, innerhalb weniger Sekunden zum Albtraum zu werden, wenn man das Pech hatte, den falschen Leuten über den Weg zu laufen. Die Summe all dieser Dinge sorgte für ein unvergessliches Erlebnis, das noch lange im Kopf nachhallte und einen geradezu zwang, so bald wie möglich erneut hinzugehen.

Als ich nach einer gefühlten Ewigkeit endlich eine Münze in den Automaten stecken kann, glüht mein Gesicht vor Vorfreude. Ich konnte meinem Vorspieler tatsächlich den einen oder anderen Trick abschauen und bin motiviert bis unter die Haarspitzen. Ich blicke ein letztes Mal über meine Schulter und sehe meinen Bruder auf der anderen Seite der Spielhalle. Er bearbeitet seinen Flipperautomaten mit der Hüfte und sein lautes Schimpfen, wenn ihm eine der wertvollen Kugel flöten geht, ist überall zu hören und sorgt immer wieder für Gelächter. 

Okay. Los geht’s!

Der Erfolg beim Spielen von Videospielen hängt von diversen Faktoren ab, wobei die Tagesverfassung eine immens große Rolle spielt. Dementsprechend enttäuscht bin ich, als ich wenige Minuten nach dem Einwurf der Münze bereits all meine Leben verbraucht habe und der Apparat frech nach einer weiteren Münze fragt. Stirnrunzeln sammle ich mich, gehe ich Kopf kurz alles durch, was ich vorhatte und versuche es ein zweites Mal. Da funktioniert alles schon ein wenig besser, aber in Summe benötige ich tatsächlich vier Fünf-Schilling-Münzen, um endlich auf das Level zu kommen, auf dem ich mich üblicherweise bewege. Dann aber bin ich unhaltbar. Ich weiche aus, springe, werfe Feuerkugeln auf Schildkröten oder werfe ihre Panzer durch die Gegend, ducke mich und fräse mich durch die Level, als würde mein Leben davon abhängen. Dass sich um mich herum eine kleine Traube an Menschen bildet, bekomme ich nicht im Geringsten mit. Mein aktiver Tunnelblick hindert mich sogar daran, zu hören, was um mich herum geredet wird – die aufmunternden Schreie, das Anfeuern, das beeindruckte Pfeifen durch Zähne. Ich bin eins mit dem Automaten und werde dieser Dreckskiste heute zeigen, wer der Boss ist. 

Während ich mich innerlich darauf vorbereite, in naher Zukunft das letzte Level zu absolvieren, passiert jedoch etwas sehr Seltsames. Die Haare an meinem Nacken stellen sich, scheinbar ohne Grund auf und eine Gänsehaut jagt in Lichtgeschwindigkeit mein Rückgrat herunter und detoniert mit einer derartigen Wucht in meinem Steißbein, dass ich erschrocken aufzucke, den Joystick loslasse und einen Schritt zurücktaumle. Verwirrt blicke ich mich um und sehe in einige überraschte Gesichter. Zwei Jungs, in etwa in meinem Alter, haben mich aufgefangen und ich höre sie dumpf fragen, ob alles okay ist. Nein, irgendwas stimmt  hier ganz und gar nicht. Das Gefühl, einen Geist gesehen zu haben, ist so stark, dass ich das Videospiel sofort vergesse und mein Fluchtinstinkt augenblicklich aktiviert wird. Ich sehe mich erschrocken nach meinen Bruder um und stelle entsetzt fest, dass er nicht mehr an seinem Flipper sitzt. In diesem Moment legt sich eine große Hand beruhigend auf meine Schultern und dreht mich zur Seite. Es ist ein erwachsener Mann, der sich ein wenig zu mir herunterbeugt und mich fragt, ob ich mich schlecht fühle. Dort, wo er mich an der Schulter berührt, scheint meine Haut komplett einzufrieren, ich möchte schreien, sehe ihm aber nur ängstlich und stumm ins Gesicht. Er fragt mich, ob ich weiterspielen möchte und dass er mir zugesehen hätte, wie ich dieses Spiel meistere. Ganz toll würde es das finden, meint er. Die anderen Kids, die mir zugesehen haben, haben ganz schnell das Interesse verloren und sind weitergegangen, um anderen Spielern zuzusehen. Plötzlich stehe ich alleine mit diesem Fremden da, der immer noch den Arm um mich gelegt hat und mich sanft, aber bestimmt, in eine ruhige Ecke der Flipperzentrale manövriert. Dabei redet er leise und beruhigend auf mich ein. Dass er Fotograf sei und immer auf der Suche nach Jungs, die er für Werbekataloge ablichte und dass ich ein sehr gutaussehender, junger Mann sei und ob ich Lust hätte, für ihn Model zu stehen und dass es dafür natürlich auch Geld gäbe. Ich bin komplett erstarrt und irgendwie spüre ich, dass ich mich in großer Gefahr befinde. In meinem Kopf schrillen alle Alarmglocken und ich beginne innerlich langsam bis zehn zu zählen, während der Kerl immer noch mit seiner Samtstimme auf mich einredet. Dann drehe mich plötzlich um und renne durch die Halle, als wäre der Leibhaftige hinter mir her. Ich rufe meinen Bruder, kann ihn jedoch nirgends entdecken. Als mich eine Hand von hinten packt und zurückzieht, schreie ich panisch und schlage wild um mich. 

“Herst, du Trottel, was machst du?!”, ist alles was ich höre, als ich in das überraschte Gesicht meines Bruders blicke, der mich festhält.

Ich falle ihm um den Hals und erzähle ihm zitternd von dem Typen. Seine Miene verfinstert sich sehr schnell, er hört mir aber genau zu. Er fragt mich, wo ich ihn zuletzt gesehen habe und was genau passiert ist. Ich zeige stumm zum Videospiel-Automaten und zur Ecke, in die er mich geschoben hat. Er dreht sich um und zieht mich hinter sich her. Wir durchsuchen die ganze Halle, aber der Kerl ist verschwunden. Mein Bruder fragt mich, wie er ausgesehen hat und ich erzähle ihm alles, woran ich mich erinnern kann. Er setzt mich auf einen Barstuhl vor einem Flipper und hält mir seinen ausgestreckten Zeigefinger vor die Nase.

“Du wartest hier.” Ich nicke. “Beweg dich hier nicht weg!”, wiederholte er. Ich nicke erneut. 

Er verschwindet aus meinem Blickfeld und kurze Zeit darauf sehe ich, wie er die Flipperzentrale durch den vorderen Ausgang verlässt. Ich bin kein kleines Kind und ich weiß auch schon mit 14 Jahren, wieviel Scheiße auf dieser Welt passiert. Dass ich diesem Raubtier nichts entgegenzusetzen hatte und einfach eingefroren bin, wie ein Reh im Scheinwerferlicht, macht mir extrem zu schaffen und ich frage mich, warum ich dem Arsch nicht einfach in die Eier getreten habe und sofort weggelaufen bin. Dieses Gefühl, dem Tod nahe zu sein, hatte mir für kurze Zeit jegliche motorische Fähigkeit geraubt und erst langsam spüre ich, wie sich die Gänsehaut auf meinem Rücken legt. Ich gebe meinem Impuls, vom Hocker herunterzugleiten, um nach draußen zu gehen, nicht nach, obwohl der Wunsch, meinen Bruder zu suchen, überwältigend ist. Ich frage mich, wie um alles in der Welt dieser Tag so eine drastische Wendung nehmen konnte und mir wird immer mehr bewusst, dass ich mich glücklich schätzen kann, im letzten Moment doch weggelaufen zu sein. Während ich düstere Gedanken, was sein hätte können, aus meinem Kopf wegschiebe, erscheint plötzlich mein Bruder vor mir. Er zieht mich an der Schulter vom Hocker und deutet mir stumm, ihm zu folgen. Wir verlassen die Flipperzentrale durch den Vorderausgang und gehen schnellen Schrittes die Straße des ersten Mai entlang, in Richtung Praterstern.

Alle zwanzig Meter sieht er über seine Schulter, die linke Handfläche an meinem Rücken, die mich sanft weiterschiebt und dazu drängt, schneller zu gehen.

Was passiert sei, möchte ich wissen.

Nicht jetzt, sagt er.

Ich bemerke erst jetzt, dass blutige Hautfetzen von den Knöcheln seiner rechten Hand hängen, die er nur kurz nach oben hält, um sie zu inspizieren.

Ich stelle keine Fragen mehr. Ich weiß, was passiert ist. 

Wir gehen bis zum Praterstern, steigen in den Fünfer ein und als die Straßenbahn losfährt, fällt mir eine Last von den Schultern und ich atme tief ein und aus. Mein Bruder sieht mich besorgt an und fragt mich, ob wirklich nichts passiert sei mit dem Typen. Ich schüttle den Kopf und versichere ihm, dass da ja andere Kids gewesen seien und der Wichser nur vorgehabt hatte, mich aus der Halle zu locken. Ich erzähle ihm von diesem seltsamen Gefühl und er nickt stumm, so als wüsste er ganz genau, wovon ich rede.

Wir sitzen nebeneinander und blicken aus den Fenstern der alten Straßenbahngarnitur, während sie sich langsam und ächzend durch den zweiten und dann zwanzigsten Bezirk kämpft. Ich habe nie erfahren, was mein Bruder diesem Typen angetan und wie schwer er ihn verletzt hat. Ich weiß nur, dass es für ihn vollkommen selbstverständlich war, sich um diese potentielle Bedrohung zu kümmern. Obwohl er nur drei Jahre älter war als ich, war er immer schon imstande, sich physisch auch gegen Erwachsene zu behaupten. Er redete nie darüber, er tat, wovon er dachte, dass es getan werden muss. Vorbehaltlos und ohne eine Sekunde nachzudenken. Für seine Familie, für seinen Bruder.

Ich habe ihn vor einigen Jahren gefragt, ob er sich noch an diese Sache erinnern kann und er schüttelte nur den Kopf, ohne weiter darauf einzugehen. In seinem Leben war so viel passiert, warum sollte er sich auch an so eine kleine Episode erinnern. Für mich war es jedoch ein sehr einschneidendes Erlebnis und es sorgte dafür, dass ich in meinem Leben danach im Angesicht von Gefahr nie wieder in eine derartige Lethargie verfallen würde. 

Familie sucht man sich nicht aus, Familie hat man. Das kann Fluch und Segen zugleich sein. Selbst die Beziehung zu meinem Bruder war war mal das eine, dann wieder das andere. Unterm Strich wusste ich jedoch immer, dass ich mich auf ihn verlassen konnte. Egal, was passierte, nichts auf der dieser Welt würde ihn daran hindern, mir den Rücken frei zu halten.

Als ich ihn im Oktober 2021 das letzte mal lebend sah, umarmte er mich zur Verabschiedung, küsste mich auf die Wange und flüsterte mir ins Ohr.

“Pass auf dich auf. Ich werde immer für dich da sein, egal wann, egal wo.”

Ich küsste ihn retour und dankte ihm verlegen. Dann stieg ich in den Bus, der mich zum Flughafen in Antalya bringen würde. Ich drehte mich ein letzten Mal um, damit ich ihm durch das Heckfenster winken konnte. Er stand da, angeschlagen, traurig, vom Leben gekennzeichnet jedoch voller Liebe und winkte mir zurück. Das ist das Bild von meinem Bruder, das ich die letzten acht Monate in meinem Herzen trage. Egal, was ihm das Leben für Knüppel zwischen die Beine geworfen hat, er war nie bereit, sich zu beugen. Seine Liebe für mich war gigantisch und er war sich auch nie zu stolz, mir das zu sagen. Als ich letztens ein Special von Adam Sandler auf Netflix sah, kam eine Passage, in der er einen Song über den Comedian und seinen verstorbenen Freund Chris Farley zum Besten gab. Das Publikum rastete vollkommen aus und die Menge an Liebe war selbst über den Bildschirm noch spürbar. Mir wurde klar, dass Adam Sandler, ein Superstar, es sich zur Aufgabe gemacht hatte, seinen Freund immer wieder in Erinnerung zu rufen, damit ihn die Menschen nicht vergessen. Ich fand diesen Akt der Treue und Zuneigung so unglaublich schön, dass er mir die Tränen in die Augen trieb. 

Meine Geschichten hier sind mein Weg, meinem Umfeld von meinem Bruder zu erzählen. Damit die, die ihn kannten, mehr über ihn erfahren. Und die, die ihn nicht kannten, erfahren, was für ein großartiger Mensch er gewesen ist, mit all seinen Kanten und Fehlern. Ich werde immer von  meinem Bruder erzählen und ihn so zumindest in meinen eigenen Erinnerungen am Leben erhalten. 

Was für ein Glück ich hatte, ihn zu kennen. Was für ein Privileg, mit ihm gelebt zu haben. Was für ein Bruder! Was für ein Mensch!

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