Kenny schreckte hoch, genau in dem Moment, als Vater O’Brien sich räuspernd dem Mikrofon näherte, um seine Sonntagspredigt zu halten. Seit die Menschentraube, die an diesem eiskalten Februarmorgen zitternd vor der Kirche gewartet hatte, sich langsam ins Innere der Saint Mary’s Kirche ergossen hatte, waren keine fünf Minuten vergangen. Für Kenny, der am vermutlich schlimmsten Kater der letzten drei Tage litt, war diese Zeitspanne jedoch ausreichend gewesen, in einen wohligen Schlummer zu driften. Nun war er wieder wach, wie der Rest der Meute. Seufzend richtete er sich auf und versuchte sich auf Vater O’Brien’s Predigt zu konzentrieren.
Dieser kam dann auch ohne viel Vorspiel direkt zur Sache. Seitenhiebe auf Glücksspiel, Ehebruch und Völlerei feuerte er mit derselben Inbrunst ab wie er auch über die Themen Blasphemie, Trägheit und den exzessiven Genuss von Alkohol. Kenny ließ sich beim letzteren ein wenig in die Holzbank fallen und warf verstohlene Blicke nach links und rechts.
Ewige Verdammnis versprach Vater O’Brien allen, die sich weigerten den rechten Pfad zu suchen, zu erkennen und ihn letzten Endes konsequent bis zum Ende zu gehen. Denn das Paradies offenbare sich nur denen, die sich in Fleiß, Demut und Bescheidenheit übten. Allen anderen stünden die ewigen Flammen der Hölle bevor. Flammen, die einen über Jahrmillionen immer und immer wieder zu Asche verbrennen und erneut auferstehen ließen, um so die reinigende Kraft des Feuers ihre heilige und reinigende Arbeit verrichten zu lassen.
Zeit, so Vater O’Brien, spielt im Jenseits keine Rolle. Gott war imstande, Zeitebenen dermaßen ineinander zu verschachteln, dass einem eine Sekunde wie ein Jahr und 300 Jahre wie ein Tag vorkamen. Kenny musste über diesen hochtrabenden Blödsinn grinsen und schüttelte unbewusst den Kopf.
Der Pfarrer der Dorfgemeinde bemerkte dies, hielt kurz inne und kam dem Mikrofon schließlich erneut sehr nahe. Er warf Kenny einen strengen Blick zu, sodass dieser noch weiter in seiner Bank verschwand und versicherte seiner Glaubensgemeinde, dass die ewige Verdammnis auf jeden einzelnen wartete, der sich vom rechten Pfad abwandte.
Auf dem Heimweg, den Kenny einer Laune nachgebend über den Strand eingeschlagen hatte, schwor er sich, dass er sich diese sonntäglichen Kirchenbesuche ab sofort sparen würde. Er hatte immer seine Mutter zur Kirche besucht, aber die war vor einigen Monaten dem Krebs zum Opfer gefallen. Kenny hatte sich eigentlich nicht viel Gedanken über seine Kirchenbesuche gemacht und war einfach weiterhin sonntags zur Messer erschienen. Aber jetzt war es genug.
Er zog an seiner Zigarette an, schnippte den Stummel weg und lachte laut über den Blödsinn der ineinander verschachtelten Zeitebenen. Wofür hielt sich dieser dumme Pfarrer eigentlich, Christopher Nolan? Kenny blieb kopfschüttelnd stehen, drehte sich zum Meer und genoss den Anblick der sich kräuselnden Wellen, die das grau-blaue Meer an seiner Oberfläche in Richtung Strand schob und ehe sich Kenny eine Antwort darauf machen konnte, was das für ein seltsames Ding, war, dass da plötzlich vor ihm aus dem Wasser schoss und ihn packte, hatte ihn dieselbe Erscheinung auch schon im Schlepptau und zog ihn, während er kreischend und quietschend nach Hilfe rief, ins Wasser und auf und davon in tausende Kilometer Entfernung bis ans andere Ende der Welt.
Als Kenny nach gefühlten tausend Jahren an einem anderen Strand aus dem Wasser steigt, ist er nackt. Und eine Frau. Vollkommen verwirrt und am Ende seiner Kräfte, stolpert er über den Strand, bis er vor einer kleinen Holzhütte zusammenbricht. Ein kräftiger Fischer mit wettergegerbten Gesicht und rauen Händen bringt sie in sein Heim und pflegt Kenny gesund. Er verliebt sich in diese geheimnisvolle, wunderschöne Frau und die beiden heiraten. Kenny weiß nicht so recht, wie man sich als Frau verhält. Aus Dankbarkeit gibt er seinen Frauenkörper dem Fischer hin und ein überwältigendes Gefühl der Zusammengehörigkeit und Liebe überkommt ihn, als sie sich das erste mal lieben. Noch nie in seinem Leben hat er sich so lebendig gefühlt und als der Fischer mehrmals seufzend ein Wort in einer fremden Sprache wiederholt, ist sich Kenny sicher, dass das sein neuer Name ist.
Der Fischer nennt ihn ‘Anahera’. Und Kenny hört auf zu existieren.
Das Leben am Strand ist hart, aber Anahera und ihr Mann Keori verbringen glückliche Jahre miteinander. Als sie ihr erstes Kind zur Welt bringt, ist sie der glücklichste Mensch auf der Welt. Der Junge hat pechschwarzes Haar und smaragdgrüne Augen, sie nennen ihn ‘Kākāriki’. Keori versorgt sie mit Fischen und Meeresfrüchten und abends sitzen alle drei vor der kleinen Hütte unter Palmen, singen und ‘Ana’, wie sie von ihrem Mann genannt wird, schmiegt sich liebevoll an die kräftigen Schultern des Fischers, der sich immer wieder fragt, woher diese wundervolle Frau wohl gekommen sein mag.
Ihr zweites Kind, eine Tochter, benötigt ganze drei Tage, um geboren zu werden. Sie ist wunderschön und hat einen dunklen Haarschopf, der ihr bis zu ihren entzückenden Schultern reicht. Ana tanzt mit ihr morgens durch am Strand und singt ihr alte irische Hirtenlieder vor. ‘Makawe’, so der Name der kleinen Perle, wächst rasend schnell zu einer Schönheit heran, die Ana und Keori tagtäglich vor Liebe die Tränen in die Augen treibt. Beim Abendessen fassen sie sich gegenseitig an den Händen, wiegen sich hin und her und danken dem Meer dafür, dass es am heutigen Tag wieder gut zu ihnen war. Keori blickt seine Familie liebevoll an und dankt den Göttern dafür, dass sie ihm diese wunderbaren Menschen geschenkt haben.
Als benachbarte Fischer Keoris Boot einsam am Strand entdecken, verheißt das nichts Gutes. Krank vor Sorge rennt Anahera den Strand auf und ab, auf der Suche nach ihrem Mann. Vier Tage später wird sein aufgedunsener Leichnam strandabwärts zwischen zwei Felsen gefunden. Fische haben seine Augen und Wangen gefressen, seine Hautfarbe ist zu diesem Zeitpunkt schon dunkelgrau. Ana, von ihrem Kummer immer mehr in den Wahnsinn getrieben, schreit nachts aufs Meer hinaus und verwünscht es. Ihre beiden Kinder stecken ängstlich ihre Köpfe zusammen und sehen ihr Mutter zitternd dabei zu, wie sie Steine und Äste aufklaubt und unter den wüstesten Beschimpfungen ins Wasser schleudert. Als Anaheras kraftlos und weinend in den sich kräuselnden Wellen in die Knie geht, hört sie ein seltsames Geräusch, das sich vom offenen Meer her nähert. Ehe sie erschrocken aufspringen und flüchten kann, wird sie gepackt, unter Wasser gedrückt und in Zickzack Mustern tausende Kilometer durchs offene Meer gezogen, vorbei an Schiffswracks, Atlantis und Korallenriffs.
Als Kenny prustend und spuckend zu sich kam, bemerkte er, dass er mit dem Gesicht nach unten am Strand lag. Er sprang auf und bemerkte erst später, dass der immer lauter werdende Schrei aus seinem eigenen Mund stammte. Er kreischte immer weiter, bis seine Stimme nur mehr ein klägliches Krächzen war, stand schließlich auf und wankte in Richtung Stadt.
Als er vor der Saint Mary’s Kirche ankam, begannen die ersten Kirchgänger das alte Gotteshaus zu verlassen. Vater O’Brien verabschiedete alle am Ausgang und lächelte ihnen zu, nicht ohne sie vorher zu ermahnen, seine Predigt zu beherzigen. Kenny beobachtete das alles und bewegte sich, als niemand mehr zu sehen war, langsam auf den Pfarrer zu. Vor ihm angekommen, sank er auf die Knie und begann schluchzend und krächzend zu weinen. Vater O’Brien beobachtete ihn eine Weile, ehe er vor ihm in die Knie ging und Kenny’s Gesicht mit zwei Fingern am Kinn sanft nach oben drückte, um ihm in die Augen zu sehen.
“Du hast Jahre gebraucht, um mir zu glauben, Kenny.”, seufzte er schließlich. “Jahre mussten vergehen und zwei Kinder musstest du zur Welt bringen.”
Kenny umarmte den Geistlichen und weinte. Während seine Schultern unter der Last des Kummers zuckten, weinte er um seinen verloren gegangenen Glauben, seine Mutter, seinen Mann Keori und seine zwei Kinder Kākāriki und Makawe.