Es ist kurz nach drei Uhr nachts, als Noah schweißgebadet aus einem Albtraum hochschreckt. Er braucht einige Zeit um sich daran zu erinnern, wo er sich befindet und wie er hier gelandet ist. Er trinkt die Karaffe mit lauwarmen Wasser von seinem Nachttischchen leer und rutscht leise stöhnend von seinem Bett. Der kalte Boden fühlt sich auf seinen heißen Fußsohlen großartig an. Noah schließt die Augen und genießt das kühlende Gefühl unter seinen Füßen. Schließlich richtet er sich stöhnend auf und verläßt das Zimmer.
Die flackernden Neonröhren, die an den Decken der Station sieben der Unfallchirurgie befestigt sind, tauchen die Umgebung in ein gespenstisches, blaues Licht. Noah patscht, immer noch barfuß, den Gang entlang und bleibt gelegentlich kurz stehen, wobei er sich mit einer Hand an der Wand abstützt und mit der anderen die schmerzende Seite hält, die vom Beckenknochen bis unter die Achsel in einen festen Verband gewickelt ist – vier gebrochene Rippen. Sein rechter Arm steckt in einem frischen Gipsverband, seine Stirn ziert eine frische Naht, die über der linken Augenbraue beginnt und sich nach oben zu seinem Haaransatz erstreckt. Bei einer der Durchschnauf-Pausen, steckt Noah seine Zungenspitze in den Zwischenraum seiner oberen Zahnreihe, wo ihm ein Eckzahn fehlt. Mit einem einzigen wuchtigen Schlag sauber aus dem Kiefer befördert. Ja, man kann ruhigen Gewissens behaupten, dass er ein ziemliches Wrack ist. Aber immerhin hat er die albanische Mafia im Alleingang zur Strecke gebracht.
Nun.. mehr oder weniger im Alleingang.
Als Noah die richtige Tür gefunden hat, öffnet er sie leise und betritt das Zimmer. Franka liegt beim Fenster, das Licht ist an und sie ist wach. Auf ihrem Kopf thront ein weißer Verband von der Größe eines Medizinballs und ihr rechter Arm liegt in einer Schlinge und ist am Körper fixiert. Stumm beobachtet sie, wie sich Noah keuchend ihrem Bett nähert, um sich am Fußende stöhnend niederzulassen.
„Na, du siehst vielleicht scheiße aus.“, sagt sie schließlich trocken.
Noah verzieht das Gesicht zu einem Grinsen.
„Du solltest mal die anderen sehen.“, grunzt er, immer noch außer Atem.
„Das habe ich.“, erwidert Franka ernst.
Noah kann es nicht sehen, aber Frankas linkes Bein steckt ebenfalls in einem Gips. Ihr Oberschenkel wurde vom Projektil einer kleinkalibrigen Handfeuerwaffe getroffen, das wie durch ein Wunder den Knochen verfehlt hat und direkt auf der Rückseite ausgetreten ist. Ihr Bein fühlt sich trotz der Unmengen an Schmerzmitteln an, als hätte es jemand mit einem rostigen Buttermesser abgesäbelt. Franka hebt das Bein so gut es geht zur Seite, damit Noah es im Sitzen nicht berührt.
Während sich die beiden anschweigen, schnarcht die andere Zimmergenossin leise vor sich hin. Noah weiß irgendwie nicht mehr so genau, warum er gekommen ist. Als er vorhin in seinem Zimmer aufgewacht ist, galt sein erster Gedanke Franka. Sie hatte ihm das Leben gerettet. Mehrmals. Auch wenn er sich laufend eingeredet hatte, dass er die ganze Sache auch ohne sie bewerkstelligt hätte, wird ihm plötzlich klar, dass er es ohne sie niemals lebendig aus diesem Keller-Labyrinth geschafft hätte. Was Franka, lediglich ausgestattet mit einem Teppichmesser, für ein Chaos unter den albanischen Gangstern angestellt hatte, war der Stoff für Albträume oder Hollywood-Actionfilme. Oder beides. Noah schließt kurz seine trockenen, juckenden Augen, sieht die Klinge des Teppichmessers und wie sie sich tief in eine Achilles-Sehne gräbt und öffnet die Augen sofort wieder, um das Bild aus seinem Kopf zu vertreiben. Nein, ohne Franka hätte er das alles nicht überlebt.
„Geht es dir gut?“, fragt Noah schließlich leise und greift nach Frankas Hand.
Ihrem ersten Impuls, die Hand wegzuziehen, gibt sie nicht nach und so spürt sie kurz darauf Noahs raue Finger auf ihrer zerschundenen Haut. Seine Hand ist warm und irgendwie spürt sie durch diese einfache Berührung, wie sehr er vor Leben zu strotzen scheint. Was sie getan hat, um sich und Noah aus diesem Kellerverließ zu retten, hätte sie nie für möglich gehalten. Dass sie einem Menschen, ohne mit der Wimper zu zucken, das Leben nehmen konnte war eine Einsicht, die sie immer noch über alle Maßen überraschte. Erst im Krankenhaus, als Ruhe eingekehrt war und sie sich damit auseinander setzen konnte, hatte sie festgestellt, dass lediglich der erste Gangster, den sie mit dem Baseballschläger erledigt hatte, sie etwas Überwindung gekostet hatte. Bei allen anderen war es gewesen, als hätte sie noch nie in ihrem Leben etwas anderes getan. Dieser Gedanke erschreckte sie ziemlich. Irgendwie fand sie es aber auch geil.
Gemeinsam hatten sie sich aus einer hundertprozentigen Sackgasse manövriert und waren tatsächlich lebendig aus dieser Sache herausgekommen. Als die Polizei das Areal umstellt und gestürmt hatte, waren die Beamten zunächst auf die geschundenen und blutenden Körper von Noah und Franka gestoßen und bei weiterem Vordringen immer verblüffter über unzählige Leichen von Mitgliedern der albanischen Mafia gestolpert. Die Einvernahme zum ehestmöglichen Zeitpunkt hatte keinen Zweifel daran gelassen, dass Noah und Franka höchstwahrscheinlich gefoltert und ermordet worden wären, wenn sie sich nicht erstaunlicherweise selber aus dieser misslichen Lage befreit hätten. „Meine Gute“, hatte der Einsatzleiter beeindruckt zu Franka gesagt „ich habe keine Ahnung, warum Sie noch am Leben sind.“
Während hinter dem Fenster langsam der Morgen naht, halten die Beiden weiter stumm Händchen und fragen sich, was die Zukunft wohl bringen wird. Noah fragt sich, ob Franka mit ihm essen gehen würde. In ein schickes Restaurant, wo man ein Sakko tragen musst und alleine fürs Gedeck Unmengen hinblättert. Der Gedanke gefällt ihm so sehr, dass er zu lächeln beginnt.
Franka schließt ihre Augen und versuchte ein wenig zu schlafen. Noah ist ja da und sie fühlt sich einigermaßen sicher. Vielleicht wird sie ihn fragen, ob er mit ihr essen gehen will. Das würde ihr gefallen.
Nachdem sie stirnrunzelnd und erfolgreich Teppichmesser, Baseballschläger, Macheten, Nagelpistolen, Totschläger, Fahrradketten und Brecheisen aus ihrem geschundenen Gehirn verbannt, fällt sie schließlich lächelnd in einen tiefen Schlaf.