Marcello war zufrieden. Der heutige Tag hatte sich als großartige Ablenkung von den aktuell etwas unglücklichen Entwicklungen seines Lebens entpuppt. Er war mit seinen zwei besten Freunden in Milano unterwegs, sie hatten gut gegessen, viel getrunken und nun spazieren sie die kleinen Gassen dieser großartigen Stadt entlang, während sein Hirn die Alkoholmengen, die Marcello sich zugeführt hatte, zu verarbeiten versucht. Er grinst benebelt, überquert eine kleine Gasse, ehe er auf der gegenüberliegenden Seite auf einen knapp 40 cm hohen Randstein steigt. Dieser ungewöhnliche Höhenunterschied lässt ihn kurz innehalten, um sich die Straßenecke näher anzusehen. Ein Blick die Gasse entlang verrät, dass der Gehsteig zehn Meter weiter noch eine normale Höhe aufweist und sich erst zur Ecke hin unverhältnismäßig hoch auftürmt. Wäre Marcello in diesem Moment nicht stehen geblieben, um sich die bautechnische Unfähigkeit italienischer Straßenarbeiter anzusehen, könnte er seinen Blick nicht weiter in Richtung Straße wandern lassen, welche die kleine Gasse kreuzt und dadurch wiederum wäre ihm der kleine, rote Fiat 500 entgangen, der einsam und alleine ein paar Meter weiter steht. Und genau unter diesem Wagen entdeckt Marcello in diesem Moment die Flasche.
Jake und Schorsch, die bereits weitergegangen sind, merken nicht sofort, dass ihr Freund verloren gegangen ist. Sie stehen in einiger Entfernung und führen ihr Gespräch fort, als sie Marcello an der Straßenecke stehen sehen. Sowas passiert öfter. Sie spazierten durch die Straßen Budapests und Marcello begann über die wunderschönen Dächer der Stadt zu berichten. In London hatte ihnen Marcello vor dem Buckingham Palast geschlagene zwei Stunden lang ein Referat über die britische Königsfamilie gehalten. Im Hofbräuhaus in München mussten sie ihn dazu bringen, die Lautstärke zu drosseln, als er sich lauthals über Hitlers Zeit in der bayerischen Hauptstadt ausließ und in Brünn konnten sie es kaum abwarten, bis Marcello seinen Vortrag über die kunsthistorische Relevanz des stinknormalen Hauptbahnhofs beendet hatte. Dass er nun in Milano an einer Ecke steht, abgefüllt bis über beide Ohren, und sich den Asphalt genauer ansieht, lässt weder bei Jake noch bei Schorsch irgendwelche Alarmglocken läuten. Sie unterhalten sich einfach weiter über Netflix Serien und warten geduldig auf ihren Freund.
Marcello nähert sich dem Fiat 500 und beugt sich die letzten Schritte etwas herunter, um einen besseren Blick auf die Flasche zu werfen. Normalerweise würde ihn der Anblick einer Glasflasche kaum nennenswert beeindrucken, aber diese Flasche ist etwas Besonderes, das sieht er auf den ersten Blick. Er geht vor dem kleinen Auto in die Knie, stützt sich mit der linken Hand ab und greift unter der Beifahrerseite durch, bis er das kalte Glas der Flasche in der Hand spürt. Sie ist glatt und fühlt sich großartig an. Langsam zieht er sie hervor, steht auf und betrachtet sie.
Die Flasche hat eine ungewöhnliche Farbe – irgendwas zwischen hellgrün und braun – ist undurchsichtig und am Hals wunderschön mit einem Wappen verziert. Dieses wurde scheinbar mit der Flasche gegossen, danach hat man sich aber scheinbar die Mühe gemacht, das Wappen mit weißem, rotem und grünem Wachs zu versehen. Marcello tastet sanft über das Relief des Wappens und nickt anerkennend. Wer auch immer dieses Prachtstück produziert hat, ist eindeutig ein Meister seines Fachs. Er dreht den Fund in alle Richtungen und stellt fest, dass die Flasche zwar verschlossen ist, sich aber scheinbar keine Flüssigkeit im Inneren befindet. Das schlichte weiße Etikett an der Vorderseite zeigt einen hellgrauen Aufdruck in Serifenschrift.
Aprire 2023.
Marcello denkt angestrengt nach. Aprire… aprire..
Trotz seiner italienischen Herkunft kann er dieses Wort nicht entziffern. Wirklich verwundernd ist dies jedoch nicht, immerhin beschränkt sich sein italienischer Wortschatz gerade mal auf die wichtigsten Floskeln und ein paar Schimpfwörter, die ihm wichtig genug erschienen. Wenn man in Wien geboren wird und aufwächst, spricht man eben Wienerisch. Stirnrunzelnd hält Marcello die Flasche an sein Ohr und schüttelt sie kurz. Da ist eindeutig etwas drin! Er schüttelt weiter, während er das Wort mehrere Male in seinem Mund hin und her wälzt, ehe er sich schließlich seinen beiden Freunden zuwendet.
“Was heißtn Aprire?”, ruft er zu ihnen rüber.
Jake und Schorsch sehen ihn kurz an, werfen sich gegenseitig fragende Blicke zu, zucken mit den Schultern und plaudern schließlich weiter. Marcello flucht leise und fingert sein Smartphone aus der Hosentasche. Er öffnet mit der linken Hand die Google Translate App, während er mit der rechten Hand die Flasche balanciert und gibt “Aprire” ein.
“Öffnen” verriet Google Maps.
“Öffnen?”, murmelt Marcello verwundert. Was zum Teufel war in dieser Flasche drin?
Schließlich trägt er die Flasche zu seinen Freunden. Diese unterbrechen ihr Gespräch und sehen ihn fragend an, als sie den gläsernen Gegenstand in seiner Hand entdeckten.
“Was ist das?” Jake deutet mit dem Zeigefinger auf Marcellos Fund.
Dieser dreht sich um und deutet in die ungefähre Richtung des Wagens. “Hab ich unter dem Fiat da hinten gefunden”
“Weinflasche?”, fragt Schorsch grinsend und leckte sich die Lippen, als er feststellt, dass die Flasche ungeöffnet ist.
“Nein, kein Wein.”, verrät Marcello. “Es ist zwar etwas drin, aber keine Flüssigkeit. Hör mal..” Er hält die Flasche zuerst an Jakes und danach an Schorschs Ohr und schüttelt sie heftig. Es raschelt.
Die drei sehen sich stumm an, ehe Jake nach der Flasche greift, sie Marcello entreißt und ausholt, um sie auf den Boden zu werfen.
“Warte!” Marcello reißt beide Arme hoch und hält Jake seine Handflächen vors Gesicht. “Warte, warte!” Sachte holt er sich die Flasche von seinem Freund zurück und öffnet behutsam den Drehverschluss. Die Tatsache, dass diese wunderschön gefertigte Flasche über etwas derart Banales wie einen Drehverschluß verfügt, scheint keinem der drei Jungs irgendwie sauer aufzustoßen. Marcello hebt seinen Arm mit der Flasche, hält sie gegen den blauen Abendhimmel, kneift ein Auge zusammen und schielt mit dem anderen in den Flaschenhals. Jake und Schorsch sehen ihm stumm zu und warteten auf die Lüftung des Geheimnisses.
“Ich seh’ einen feuchten Scheiß.”, seufzt Marcello schließlich.
Schorsch schnappt sich daraufhin wortlos die Flasche, holt aus und wirft sie mit Karacho zwischen ihre Beine. Die Flasche zerbricht mit einem erstaunlich unspektakulären und metallischen Geräusch in vier Teile und ein zusammengefalteter, gelber Zettel erscheint zwischen den großen Scherben. Schorsch hebt den Zettel auf und händigt ihn zwinkernd Marcello aus, der erneut beide Arme hochgerissen hat und in dieser Pose eingefroren ist. Er raunt Schorsch ein von Herzen kommendes “Arschloch” zu, nimmt den Zettel und faltet ihn auseinander.
“Che cazzo” steht da in krakeliger Handschrift, darunter ein kleiner Penis.
“Was zum Teufel”, murmelt Marcello enttäuscht und dreht den Zettel einige Male in seiner Hand hin und her. Nein, mehr steht da nicht.
“Und?” Jake sieht ihn grinsend an. “Schatzkarte?”
Marcello hält seinen Freunden den Zettel hin, während er erneut sein Smartphone aus der Hosentasche fingert, um herauszufinden, was das bedeutet. Er klopft den Text in Google Translate ein und liest die Übersetzung laut vor.
Er sieht Jake an, der gähnt. Er wirft Schorsch einen Blick zu, der leise kichert. Danach knüllt er den Zettel lachend und kopfschüttelnd in seiner Hand zusammen und schmeißt ihn über seine Schulter, ehe er sich bei seinen beiden besten Freunden einhängt und sie in Richtung Zentrum weiterzieht.
Der weitere Abend verläuft großartig. Sie spazieren den Kanal entlang, trinken Unmengen an Bier und Cocktails, rauchen Zigarren, flirten mit Kellnerinnen, essen wunderbare Pizza, tanzen zu elektronischer Musik in einen Pub, übergeben sich in den Kanal, liegen auf dem kühlenden Asphalt von Steinstufen, sehen in den schwarzen, von unzähligen Sternen gespickten Himmel und freuen sich dass sie im Hier und Jetzt sind, sich gegenseitig haben und entscheiden einstimmig, dass es ihnen nie schlechter gehen soll als in diesem Moment.
Und genau so kommt es auch.