Als die Suppe zum Esstisch gebracht wird, machen alle „Oh“ und „Ah“. Die Tarhana-Suppe meiner Tante, eine fermentierte Köstlichkeit aus Joghurt, Mehl und Tomaten, traditionell heiß und scharf serviert, ist legendär und der Auftakt zu einem Festmahl, das mir noch sehr lange in Erinnerung bleiben wird.
Wir schreiben das Jahr 1985. Ich bin zwölf und sitze mit meinen drei Geschwistern und meinen Eltern im Wohnzimmer meines Onkels in der Türkei. Er hat uns zum Essen eingeladen, und es sitzen, seine Mutter (meine Großmutter), seine Kinder und seine Frau mitgerechnet, stolze dreizehn hungrige Personen um den Tisch. Meine Tante ist eine begnadete Köchin und verzaubert uns immer wieder mit ihren Versionen türkischer Gerichte, die niemand besser zubereiten kann als sie.
Optimismus und Frohmut bestimmen das Heim meines Onkels. Eine nahezu spürbare Aura von Positivität pulsiert durch jeden Raum. Einzig meine Großmutter scheint dagegen immun zu sein. Ständig hat sie etwas auszusetzen. Ich kenne sie gar nicht anders. Meine Mutter meinte mal, dass ihre Mutter eine unglaublich spitzbübische Seite hätte, die kaum jemand zu Gesicht bekäme, nur Auserwählte. Und wie um das Gegenteil zu beweisen und auf Kommando, beginnt meine Großmutter auch schon, loszuzetern.
„Das Tarhana von früher war viel besser!“, schimpft sie und schöpft eine Kelle voll dampfender Suppe in einen Teller und reicht ihn mir. „Der Joghurt war damals einfach viel fetter!“ Wie beim pawlowschen Hund sprudelt mir sofort Wasser in den Mund. Ich kenne und liebe diese Suppe und stürze mich sofort mit der Verbissenheit eines Yorkshireterriers auf den ersten Gang. Der Blick, den mir meine Großmutter in diesem Moment zuwirft, ist eine Mischung aus Staunen und Schadenfreude. Lächelnd setzt sie sich auf ihren Sessel und beobachtet mich dabei, wie ich mir die ersten Löffel voll Genuss in den Mund schaufle und plötzlich innehalte.
Meine Güte, das ist echt scharf! Schärfer, als ich es kenne, viel schärfer! Kleine knallrote Chiliflocken wirbeln über die Oberfläche der Suppe, ich kann sie beinahe lachen hören. Während ich nach Luft japse, beginnt meine Großmutter, leise zu kichern.
Schwäche wird im Haus meines Onkels jedoch nicht geduldet. Ich kann es mir unmöglich leisten, kreischend aufzuspringen, um mir den nächstbesten Gartenschlauch ins Gesicht zu stecken. Also ignoriere ich den Schmerz und esse weiter. Dem stummen, prüfenden Blick meiner Großmutter standhaltend leere ich meinen Teller und kratze, um diesen absoluten Triumph bewusst auszukosten, den letzten Rest Suppe mit meinem Löffel vom Tellerrand, ehe ich ihn mir in den Mund stecke. Um den Tisch herum schmatzen alle zufrieden und reichen ihre Teller meiner Tante, die abserviert und in der Küche verschwindet, um den nächsten Gang vorzubereiten. Ich seufze zufrieden und klopfe mir in Gedanken selbst auf die Schulter – gut gemacht!
Während aus der Küche klirrende und metallische Geräusche diverser Kochutensilien zu mir dringen, rauchen mein Vater und mein Onkel stinkende türkische Zigaretten und meine Geschwister unterhalten sich wild gestikulierend mit meinen Cousins und Cousinen. Ich sitze einfach nur da und nehme die Szenerie mit geschwollener Zunge auf. Meine Großmutter sieht mich immer noch lächelnd an und zwinkert mir zu, als sich unsere Blicke treffen.
Beim zweiten Gang hat sich meine Tante so richtig ins Zeug gelegt. Kichererbseneintopf auf Reis. Ich liebe diese kleinen Hülsenfrüchte, und meine Tante weiß sie wirklich hervorragend zuzubereiten. Kleine zarte Stücke aus Kalbfleisch in einem mit Zwiebeln, Knoblauch und selbst hergestelltem Paprikamark angereicherten, unglaublich aromatischen Sud mit auf den Punkt gegarten Kichererbsen, die beim Zubeißen leise „Plopp“ machen. Selbstverständlich wird der Eintopf traditionell heiß und scharf serviert.
Meine Tante stellt den großen Topf auf den Tisch und platziert daneben einen etwas kleineren mit klassischem türkischem Reis. Zu behaupten, dass es sich dabei um den besten Reis handelt, den ich jemals gegessen habe, wäre eine schamlose Untertreibung. In einer schon beinahe unverschämten Menge Butter werden Reisnudeln braun geröstet, ehe der mehrfach gewaschene Rundkornreis dazugerührt wird, bis er glasig ist. Dann noch Wasser dazu oder, noch besser, Fleischbrühe, etwas Salz und Geduld – fertig ist die Delikatesse.
Während meine Tante Reis auf den Tellern verteilt, übernimmt meine Großmutter den Eintopf und leert einen Schöpflöffel dampfenden Eintopfs über das Nest aus Reis. „Der Reis war früher tausendmal besser!“, schimpft sie, während sie die Teller an die hungrig nach ihnen ausgestreckten Hände retourniert. Als ich an die Reihe komme, überreicht sie mir den Teller und blinzelt mir erneut frech lächelnd zu. Ich trinke einen Schluck kaltes Wasser, das ein wenig nach Chlor schmeckt, spüle meinen Mund ein letztes Mal und schnappe mir meinen Löffel.
Auf geht’s.
Der erste Bissen, der meinen Gaumen passiert, verpasst demselben einen derartigen Aufwärtshaken, dass ich mich verschlucke, gefolgt von einem mittelschweren Hustenanfall. Nur der geistesgegenwärtigen Reaktion meiner Mutter, die mir sanft mit der flachen Hand auf den Rücken klopft, ist es zu verdanken, dass mich die Aktion nicht in ein frühes Kindergrab befördert.
Ja, leck mich doch am Arsch!
Mein immer noch etwas geschundener Mundinnenraum kann es kaum fassen, innerhalb so kurzer Zeit erneut einer scharfen Attacke dieses Ausmaßes ausgeliefert zu werden, und der erste Gang kommt mir plötzlich beinahe wie Kinderkram vor. Ich atme keuchend, blicke ungläubig auf meinen Teller und danach verwirrt nach links und rechts. Alle essen brav, keiner macht einen Piep. Schweiß beginnt aus allen Poren zu treten und rinnt meine Schläfen hinab. Ein Blick zu meiner Großmutter lässt mich wieder kurz innehalten. Sie sieht mich leise kichernd an und steckt sich einen Löffel Eintopf mit Reis in den Mund, um daraufhin mit dem leeren Löffel stumm auf meinen Teller zu deuten. Iss doch, iss!
Ich weiß genau, was sie denkt. Kleiner, verweichlichter Scheißer, der in Österreich aufgewachsen ist und der grandiosen Schärfe türkischer Küche nichts entgegenzusetzen hat. Aber nicht mit mir. Mit mir nicht! Ich nehme einen erneuten Schluck vom Chlorwasser, schnappe mir meinen Löffel und grabe mich entschlossen durch das Essen auf meinem Teller, während Teile meiner Seele kreischend und johlend abbröckeln und in einen See aus Wahnsinn und Verzweiflung stürzen. Als ich aufgegessen habe, bin ich schweißgebadet, aber auf seltsame Weise glücklich.
„Von wegen verweichlicht“, gebe ich murmelnd von mir und ernte seltsame Blicke von meiner Mutter. Sie wischt mir kurz mit der Handfläche über die nasse Stirn und fragt, ob alles in Ordnung ist. Ich nicke stumm und reiche meinen leeren Teller meiner Cousine, während ich zitternd versuche, das immer lauter werdende grummelnde Geräusch in meinen Eingeweiden zu ignorieren.
Keine türkische Speise liebe ich so sehr wie Türlü. Dabei handelt es sich um ein sehr einfaches Bauerngericht, im Grunde um einen Eintopf mit einigermaßen günstigen Zutaten: Karotten, Erdäpfeln, Zwiebeln, Tomaten, Knoblauch, Fleisch und Petersilie. Alles weich gegart in einer eingedickten Sauce – aromatisch und herrlich und wunderbar. Während meine Großmutter allen erklärt, dass dieses Gericht traditionell scharf und heiß serviert wird, reicht sie großzügige Portionen meiner absoluten Leibspeise in tiefen Tellern herum. Ich merke tatsächlich, dass mir vom Geruch der Speise schon wieder der Mund wässrig wird. Das führt kurioserweise dazu, dass er weniger brennt, und als der Teller dampfend vor mir steht, kann ich es kaum erwarten, loszulegen.
„Diese Erdäpfel sind der letzte Dreck!“, schimpft meine Großmutter nach ihrem ersten Bissen. „Einen Gemüsehändler, der dir so was verkauft, hätten sie früher aufgehängt!“
Ich frage mich stumm, wie viele türkische Gemüsehändler in der Türkei bereits aufgrund mangelnder Qualitätsware den Tod gefunden haben, und stecke mir den Löffel in den Mund.
Auf dieses Feuerwerk bin ich nicht vorbereitet. Alles passiert gleichzeitig: salzig und sauer und gut und Fleischgeschmack und leichte Süße und furchtbar und Schärfe. Viel Schärfe.
Meine Güte, ich glaube nicht, dass in der Geschichte der Menschheit jemals jemand etwas so Scharfes gegessen hat.
Tränen tröpfeln aus meinen Augenwinkeln, und der erste Bissen raubt mir den Atem. Aber während ich kaue und versuche, nicht zu ersticken, stelle ich fest, dass ich nicht mehr nur den Schmerz fühle. Während die ersten beiden Gänge mich so richtig durch den Wolf gedreht haben, schmecke ich jetzt auf einmal Aromen und Nuancen, die mir bisher verborgen geblieben sind. Was ist das? Kreuzkümmel? Wie konnte mir bisher entgehen, dass meine Tante neben der ordentlichen Portion Petersilie scheinbar auch noch eine Prise Thymian verwendet? Ich schmecke die Butter, mit der sie die kleinen Fleischwürfel angebraten hat, den Zucker zum Abrunden, auf jeden Fall schmecke ich Zitronenzesten, und ich bin bereit, mein gesamtes Taschengeld darauf zu verwetten, dass sie weißen Pfeffer verwendet hat, nicht den schwarzen aus der Mühle.
Löffel um Löffel offenbart sich mir eine gänzlich neue kulinarische Welt, und obwohl mich der Schmerz leise weinen lässt, bin ich gleichzeitig der glücklichste Mensch auf Erden, weil mir mit absoluter Sicherheit klar wird, dass ich in diesem Moment das beste Essen meines jungen Lebens genieße.
Ich flüstere leise vor mich hin, schiebe die Zutaten mit meinem Löffel auf dem Teller hin und her, um sie leichter zu identifizieren, wundere mich erneut über den hohen Anteil an roten kleinen Chiliflocken, und als ich mir den letzten Bissen mit geschlossenen Augen in den Mund stecke, wird mir klar, dass es die Schärfe sein muss, die für die Geschmacksexplosion verantwortlich ist. Ich weiß nicht genau, wie das funktioniert, und ich habe keine Ahnung, warum. Aber ich weiß, dass es so ist. Schärfe verstärkt den Geschmack. Irgendwann weicht der Schmerz und lässt die wahre Seele der Zutaten durchscheinen!
Und in genau diesem Moment entscheidet mein junges Gehirn, dass ich Koch werden möchte. Ganz so, als wäre es die natürlichste und selbstverständlichste Sache der Welt.
Als ich mein Glas Wasser ausgetrunken habe und mich in meinem Sessel zurücklehne, klebt mein schweissnasses T-Shirt sofort an meinem Rücken. Die Geräusche aus meinem Bauch lassen die eine oder andere Augenbraue am Tisch erstaunt nach oben schnellen, aber niemand sagt etwas. Ich halte mir meinen singenden Bauch und suhle mich in dem Gedanken, dass ich mich mit Leib und Seele dem Geschmack hingegeben habe. Mein Blick bleibt wieder an meiner Großmutter haften, ihr Gesichtsausdruck hat sich jedoch geändert. Sie sieht mich voller Zuneigung an, aber ich könnte schwören, auch ein gewisses Maß an Anerkennung zu erkennen. Sie zwinkert mir zu und bestätigt meine Vermutung mit nach oben gestreckten Daumen. Ich schließe meine Augen, konzentriere mich auf das Summen in meinem Mund und bin einfach nur glücklich.
Die nächste Stunde verbringe ich dann in der Hocke auf dem türkischen Klo meines Onkels, bis ich meine Beine nicht mehr spüre. Alle anderen stürzen sich in der Zwischenzeit auf den mürben Kürbis meiner Tante, getränkt in wunderbarem Sirup und bestreut mit massig Pistazien- und Walnusssplittern.
Schließlich wird es Zeit, nach Hause zu fahren. Alle springen auf und küssen einander zum Abschied. Wir danken meiner Tante für das großartige Mahl. Ich finde es immer noch seltsam, dass sich niemand über die exzessive Schärfe beschwert, und zum Schluss verabschiede ich mich von meiner Großmutter. Ich nehme ihre große Hand in die meine, küsse ihren Handrücken und führe ihn danach zu meiner Stirn, wie es sich älteren Menschen gegenüber gehört. Sie beugt sich zu mir herunter, hält mein Gesicht mit beiden Händen fest, sieht mich mit ihren stechend blauen Augen lange an und küsst mich schließlich schmatzend auf beide Wangen.
„Das hast du wirklich sehr gut gemacht!“, sagt sie und steckt mir schnell etwas in die Hosentasche meiner Jeans. Nachdem sie das früher schon gern mit dem einen oder anderen Geldschein getan hat, denke ich mir nicht viel dabei. Sie zwinkert mir ein letztes Mal lächelnd zu, und dann machen wir uns auf den Weg zum Auto und öffnen bei der Fahrt die Fenster, und der Wind kühlt unsere Gesichter, und wir fühlen uns lebendig und satt und sind froh, dass Sommer ist und wir Urlaub machen.
Zu Hause angekommen, nehme ich beim Zähneputzen den Gegenstand aus meiner Hosentasche und betrachte ihn verwundert. Die Zahnbürste im Mund, wickle ich das Ding aus der Hülle Küchenpapier. Als ich das kleine halb leere Säckchen Chilipulver darin entdecke, runzle ich verwirrt die Stirn. Ich drehe die Packung auf die Vorderseite. Da steht „çok acı“ – „sehr scharf“.
Ich knete das Säckchen zwischen meinen Fingern hin und her und sehe mich grübelnd im Badezimmerspiegel an. Und als mir klar wird, was Sache ist, beginne ich zu lächeln.
Und dann lache ich, bis meine Mutter ins Badezimmer kommt, mir zum wiederholten Mal an diesem Abend einen besorgten Blick zuwirft und mir stumm und kopfschüttelnd den Vogel zeigt.
Da lache ich noch mehr und falle ihr um den Hals, bis auch sie zu lachen beginnt. Sie umarmt mich fest, und ich atme ihren Geruch ein – Familie und Geborgenheit und Liebe und Essen.
Und es ist 1985, Sommer, wir sind auf Urlaub, und das Leben ist schön.