Der Kopf des aufflammenden Zündholzes leuchtet rot und wird von meinem Bruder gekonnt unter die Spitze der Zigarette gehalten, die ihm lässig aus dem Mundwinkel hängt. Sein Kopf verschwindet kurzfristig in einer weißen Rauchwolke – für einen Moment sieht es tatsächlich so aus, als hätte einen Köpfler in einen riesigen Wattebausch gemacht – ehe er wieder auftaucht und dichte Rauchringe in meine Richtung pustet.
“Ich wünschte, du würdest damit aufhören”, gebe ich zum gefühlten tausendsten Mal von mir. Ich hasse Zigaretten und ich hasse es, wenn er raucht. Nicht dass ihn das auch nur im Geringsten juckt.
“Was denn?”, fragt er vergnügt und haut ein paar Breakdance Moves raus, die er irgendwo aufgeschnappt hat. Er kann es wirklich nicht gut und ich beginne zu lachen. Er hält kurz inne und runzelt die Stirn, doch als er merkt dass ich ihn nicht auslache, sondern einfach nur die Situation lustig finde, legt er noch einen Zahn zu und erfindet neue Moves, die uns beide derart zum Lachen bringen, dass wir bald darauf schwitzend und prustend Zuflucht vor der Sonne suchen, die sich trotz der frühen Morgenstunde vorgenommen zu haben scheint, uns so viele Gehirnzellen wie möglich zu verdörren.
Wir schreiben das Jahr 1985, es ist Sommer und wir befinden uns da, wir wir auch die letzten Jahre unsere Sommer verbracht haben – in der Türkei. Während die Familien meiner Schulfreunde in Ländern wie Kroatien, Italien, Spanien oder Frankreich zwei oder drei Wochen Urlaub verbringen, treibt es meine Familie jeden Sommer für vier bis sechs Wochen in die Stadt, aus der meine Eltern ursprünglich stammen. Adapazari, in Sakarya gelegen, beherbergt Unmengen an Verwandten und Erinnerungen an das Leben vor der Auswanderung meiner Familie sind noch einigermaßen frisch. Meine drei Geschwister und ich werden natürlich gar nicht erst gefragt, wo wir Urlaub machen wollen, meine Mutter sowieso nicht. Wir stellen das auch gar nicht infrage, für uns ist klar, dass wir den Großteil unseres Sommers in Adapazari verbringen werden. Während meine zwei ältesten Geschwister bereits 19 und 21 Jahre alt sind und schon lange ihr eigenes Programm fahren, haben mein um drei Jahre älterer Bruder und ich beschlossen, uns am heutigen Tag einen neuen Spielplatz anzusehen, der angeblich am Stadtrand, nicht unweit unserer Wohnung – so denken wir zumindest anfangs – gebaut wurde. Woher wir diese Information haben, kann ich schwer beantworten. Wie alles andere damals, hatte vermutlich jemand etwas gehört, dies erzählt und per stiller Post war diese Information über Umwege zu uns gelangt. Hatten wir etwas Besseres vor? Nein. Waren wir eigentlich nicht schon zu alt für Spielplätze? Mit Sicherheit. War davon auszugehen, dass es sich bei diesem Spielplatz vermutlich um ein einigermaßen enttäuschend umgesetztes Projekt handeln würde? Hunderprozentig! Grund genug, sich die Sache mal anzusehen, was zum Teufel hätten wir denn auch sonst mit diesem Tag anfangen sollen?
Ich hatte unserem Vater also nach dem Frühstück etwas Geld aus dem Kreuz geleiert und dann machten wir uns schon auf die Reise. Niemand wusste, was wir vorhatten, niemand wusste, wo wir uns befinden würden, niemanden interessierte es auch nur einen Scheißdreck. Willkommen in der Türkei, willkommen in den Achtzigern!
Nachdem mein Bruder seine Zigarette in Richtung Müllcontainer geschnippt und sich mit seinem Taschenkamm schnell sein Haar gekämmt hat, zwinkert er mir zu und deutet mir stumm, dass es losgeht. Die einzige Information, die wir zu diesem Zeitpunkt besitzen, ist, dass der Spielplatz sich in einem angrenzenden Viertel mit dem klingenden Namen Kozluk befindet. Während wir also durch unseren Hieb spazieren, immer redend, lachend, erzählend, übertreibend, lügend, schimpfen, hustend, kichernd, wild gestikulierend, singend, pfeifend, schreiend, flüsternd und zeigend, machen wir uns keine Sekunde lang Gedanken darüber, dass wir weder etwas zu essen dabei haben, noch etwas zu trinken. Ich bin zwölf, mein Bruder ist fünfzehn – so schnell verhungert und verdurstet man da nicht. Außerdem passieren wir alle 200 Meter einen kleinen türkischen Greißler, Bakkal genannt, und in den Achtziger Jahren, lange vor irgendwelchen internationalen Supermarktketten, für die Nahversorgung in den Vierteln zuständig. Eine eiskalte Flasche Cola, Fanta oder Uludag – mein absoluter Favorit – ist also immer nur einen Steinwurf entfernt.
Während wir uns immer mehr von unserem Wohnhaus entfernen und uns die Gesprächsthemen nicht auszugehen scheinen, werden die Abstände, wo wir Wohnhäuser und die darin eingenisteten Bakkals, sehen, immer größer. Als ich das erste Mal stehen bleibe, merke ich, dass mir die Sonne die Stirn so richtig schön durchgeröstet hat. Mein Kopf ist knallrot und pocht unangenehm. Nein, Sonnenhütte oder Kappen tragen wir natürlich keine. Mein Bruder setzt sich in den Schatten eines alten Skoda Transporters und zündet sich eine Zigarette an. Obwohl er der Ältere von uns beiden ist, hat er scheinbar überhaupt kein Problem damit, dass ich die Leitung unserer Expedition übernommen habe. Ich sehe nach links, sehe nach rechts und sehe zurück. Keine Ahnung, wie wir uns so schnell aus unserem Viertel entfernen konnten, keine Ahnung, in welcher Richtung sich das Viertel Kozluk befindet und nicht die leiseste Ahnung, wo zum Teufel wir überhaupt sind. Ich geselle mich zu meinem Bruder in den Schatten und genieße es, einige Minuten nicht der erbarmungslosen Hitze ausgeliefert zu sein. Mein Bruder pafft Rauchringe, wir unterhalten uns über Knight Rider und ich erfahre, wie gerne mein Bruder diese Bonny fingerln würde. Ich auch, gebe ich zu, behalte aber für mich, dass ich nicht hundertprozentig weiß, was fingerln genau bedeutet. Ist besser so.
Als wir das erste Mal merken, dass uns die Zunge aus den Mundwinkeln hängt und schon langsam Staub ansetzt, befinden wir uns schon lange irgendwo in der Pampa und haben jegliche Orientierung verloren. Zu dem Zeitpunkt wissen wir nicht mal mehr, ob wir uns noch in Adapazari befinden, oder die Stadtgrenzen passiert haben, ohne es zu merken. Es wird immer heißer und unseren jungen Körpern rennt der Saft schneller aus, als wir zum Einen zugeben und zum Anderen wahrhaben wollen. Das ganze Geld, das ich unserem Vater abgeschnorrt habe, bringt uns nichts, weil mittlerweile sehen wir auch keine Häuser mehr. Bis zu den Knien waten wir durch grüne, überschwemmte Felder, die vom Regen der letzten Tage geflutet vor sich hin gären und auf Halbstarke warten, die kein Problem darin sehen, durch dieses ungezieferverseuchte Wasser zu staksen.
Die Tränen rinnen mir über das Gesicht, als wir endlich wieder trockenen Boden erreicht und ein kleines schattiges Plätzchen unter einem Baum entdeckt haben. Das seltsame Gefühl an meiner Wade hat sich als festgesaugter Blutegel entpuppt und mein Schrei geht sowohl mir als auch meinem Bruder durch Mark und Bein. Als er mich endlich beruhigen kann, zittere ich wie Espenlaub und muss ständig mein Bein herumdrehen, um dieses widerliche Geschöpf auf meiner Wade zu inspizieren. Mein Bruder dreht mein Gesicht dem seinen zu und sieht mir tief in die Augen.
“Ich erledige das.”, sagt er beruhigend und ich glaube ihm.
Als er das Mistvieh mit einer angezündeten Zigarette aus meiner Wade entfernt, sticht es kurz und ich wimmere, aber das Gefühl, nicht mehr ausgesaugt zu werden ist so großartig, dass ich meinem Bruder um den Hals falle und ihm danke. Die nächsten zehn Minuten verbringe ich damit, den Absatz meines rechten Turnschuhs so lange auf den Blutegel zu donnern, bis von diesem kaum mehr übrig bleibt, als eine Erinnerung.
Als wir uns weiter fortbewegt haben, wissen wir schon gar nicht mehr, wie spät es ist. Ist es überhaupt noch der gleiche Tag? Wir hätten die Nacht doch mitbekommen, oder? Ja, wir nicken beide – die Nacht hätten wir bemerkt. Die Sonne hat unsere kleinen Gehirne auf die Größe von Datteln schrumpfen lassen. Ich spüre, wie die Zunge in meinem Mund langsam zu schwellen beginnt. Eher belustigt als verängstigt, zeige ich sie meinem Bruder und wir lachen und zeigen uns gegenseitig unsere grauen, belegten Zungen und finden das gar wunderbar. Plötzlich bleibt mein Bruder stehen und zeigt nach vorne. Ich drehe den Kopf, Zunge immer noch aus dem Maul hängend, und sehe in ein paar hundert Metern einen Maschendrahtzaun, der um ein Areal gelegt wurde. Darin befindet sich ein Spielplatz. Ein sehr großer Spielplatz.
Wir sind am Ziel!
Wo wir die Energiereserven hernehmen, die paar hundert Meter im Sprint hinzulegen, weiß ich nicht, aber wir fegen über die Steppe und legen die letzten Meter auf einer staubigen Straße zurück, ehe wir staunend und beeindruckt nickend durch den Eingang dieses riesigen Spielplatzes gehen, der sich als nahezu unbenutzter Verkehrspark entpuppt. Ampeln, Zebrastreifen, Gebäude, Parkplätze, Straßenschilder – der übliche Kram eben. Überall stehen unbenutzte Räder und Tretautos herum und wir schnappen uns die schicksten und fegen durch die Miniaturstadt, als gäbe es kein Morgen.
Die kleine Hütte, die uns letzten Endes das Leben rettet, findet mein Bruder eher zufällig. Seine aufgeschlagene Hose verfängt sich in der Kette seines Rades und er donnert mit Karacho in die Wand der kleinen Holzhütte, die optisch nicht so recht zu den anderen Gebäuden passen will und etwas deplatziert wirkt. Ich bremse mich vor ihm ein und steige ab, um ihm zu helfen. Sein gesamter Oberkörper ist durch die dünne Holzwand gekracht und ich höre ihn nur aufgeregt rufen. Mit vereinten Kräften bekommen wir ihn aus dem Loch in der Wand, nicht ohne einige Kratzer, die er sich am spitzen, zerborstenen Holz zufügt. Sein grinsendes Gesicht macht mir kurz Sorgen, er eilt um mich herum, nimmt mich am Arm und zerrt mich zur Holztür auf der anderen Seite.
“Mach auf!” Er deutet auf den Türgriff.
Alles, was ich im ersten Moment sehen kann, ist Dunkelheit. Meine Augen brauchen eine gefühlte Ewigkeit, um sich an die Dunkelheit in der Hütte zu gewöhnen. Was ich jedoch sofort fühle, ist diese wunderbare Kühle, die mich umarmt und liebkost wie einen alten Freund. Und dann sehe ich endlich gut genug um zu erkennen, dass wir vor einem großen Getränkekühlschrank stehen, der bis zum Bersten mit eiskalten Flaschen Cola und Fanta gefüllt ist. Ich runzle die Stirn, schüttle meinen Kopf und sehe meinen Bruder ungläubig an. Er zuckt lachend mit den Schultern, öffnet die Tür des Kühlschranks und entnimmt zwei Colaflaschen, die er am seitlich angebrachten Flaschenöffner entkorkt. Er hält mir eine Flasche hin und wir sehen uns glücklich an, ehe wir die Flaschen in einem Zug austrinken. Und dann noch eine. Und noch eine. Und noch eine.
Wir trinken so lange, bis wir glauben, platzen zu müssen. Wir lachen und können nicht fassen, warum es in dieser gottverlassenen Gegend tatsächlich einen Verkehrspark gibt, der zudem noch eine kleine Hütte mit lebensrettendem Inhalt beherbergt. Unsere Zungen schrumpfen wieder, die Farbe kehrt in unsere Gesichter zurück unsere Teenagerkörper rehydrieren und das Leben hat uns endlich wieder. Wir leeren sicherheitshalber noch ein paar Flaschen und verlassen schließlich auf wackeligen Beinen die kleine Hütte, um uns langsam Gedanken über unsere Rückreise zu machen.
Wie es der Zufall will, befindet sich direkt hinter dem Verkehrspark eine sehr stark befahrene Bundesstraße, auf der mehrere Buslinien verkehren. Mit fragenden Gesichtern passieren wir eine Wachstube, aus deren Fenstern mehrere Polizisten gelangweilt hinaussehen und Zigaretten rauchen.
“Schau mal”, sagt mein Bruder und deutet auf die Wachstube.
“Ja”, antworte ich und in meinem Hirn beginnen sich Zahnräder zu drehen.
Wir bleiben gleichzeitig stehen und werfen einen Blick zurück zu Verkehrspark. Die Holzhütte steht in knapp hundert Metern Entfernung zur Wachstube. Genau die richtige Entfernung für eine kurze Pause im Schatten. Polizeihut und Knarre ablegen, rein in die Hütte, auf ein eiskaltes Cola, runterzischen und sich danach wieder den Kriminellen widmen.
Als wir erkennen, dass wir mindestens ein Drittel der Getränkebestände einer mittelgroßen, türkischen Wachstube ausgetrunken haben, ohne es zu wissen, werden unsere Schritte schneller. Wir ignorieren die neugierigen Blicke, die uns die Beamten zuwerfen und laufen, als wir ihrem Sichtfeld entkommen, so schnell, wie es unsere gluckernden Bäuche erlauben, die Straße entlang, bis sich ein vorbeifahrender Bus unserer erbarmt und uns aufnimmt.
Als wir heimkommen, hat niemand auch nur Notiz davon genommen, dass wir weg waren. Niemand hat uns vermisst. Wir legen uns in unsere Betten und bauschen die Story so lange auf, bis darin Motorradgangs, Zombies und Atombomben vorkommen.
Abends gleite ich dann langsam in Richtung Schlaf. Mein Zeigefinger puhlt in dem Blutegel Loch in meiner Wade herum, das unangenehm pocht und kurz bevor ich endgültig wegknacke, wende ich meinen Kopf, um nachzusehen, was mein Bruder treibt. Er liegt auf dem Rücken, die Augen an die Decke gerichtet und ebenfalls auf Halbmast , in seinem Bett und flüstert irgendwelche Songtexte vor sich hin, während er halbherzig Breakdancemoves raushaut. Im Liegen. Im Halbschlaf.
Ich grinse, schließe meine Augen, wiege mich im wärmenden Gefühl der Liebe, die ich für meinen Bruder empfinde und schwöre mir, diesen Tag nie zu vergessen, egal wie alt ich werde.
Und dann werde ich alt. Und mein Bruder stirbt.
Und heute denke ich an Tage wie diesen und freue mich, so viel Zeit mit ihm verbracht zu haben. Die Gelegenheit gehabt zu haben, mit ihm aufzuwachsen und ihn kennenzulernen.
Als wir scheinbar noch keine Probleme hatten.
Als unsere größte Sorge jene war, nicht zu wissen, wie man sich einen ganzen Tag sinnvoll beschäftigt.
Als alles, was wir brauchten, die Gegenwart des anderen war.
Als wir dachten, wir würden jeden Tag bis in alle Ewigkeit mit Abenteuern verbringen.
Als wir dachten, wir würden ewig leben.