Die Ohrfeige kommt aus dem Nichts. Obwohl mein Vater kaum mehr als 1,65m Meter Körpergröße und 55kg Körpergewicht vorzuweisen hat, ist seine Kraft schier unmenschlich. Seine halb geschlossene Hand fliegt blitzschnell an meiner Wange vorbei und detoniert zielsicher im Gesicht meiner Schwester, die am Esstisch neben mir sitzt. Das zischende Geräusch, das mit einem lauten, peitschenhiebartigen Klatschen endet, lässt mich so stark zusammenzucken, dass mir mein Esslöffel aus der Hand fliegt.
Die Gründe für die Ohrfeige sind, wie immer, vollkommen nichtig. Es braucht nicht viel, um meinen Vater zu einer derartigen Machtdemonstration zu verleiten. Ob es nun irgendein Bauarbeiter war, der ihn verärgert hat, irgendwelche politischen Ereignisse in der Türkei, die ihm sauer aufstoßen und von denen er über seinen kleinen Weltempfänger erfahren hat oder einfach nur klassische Verstopfung – die Fäuste fliegen in unserem Haushalt oft, hart und unerbittlich.
Meine Schwester hält sich stumm die Backe und ich sehe, wie Tränen ihre Augen füllen. Ich lehne mich betreten zurück, senke den Blick und hoffe, dass es mit dieser einen Ohrfeige erledigt ist. Niemand am Tisch spricht ein Wort, alle blicken ängstlich irgendwohin, in der Hoffnung, den Zorn meines Vaters nicht als nächstes auf sich zu ziehen. Schließlich bittet meine Mutter meinen Vater halbherzig, doch wenigstens beim Essen nicht grob zu werden. Sein grimmiger Blick in ihre Richtung lässt sie sofort verstummen. Schließlich nimmt jeder sein Besteck auf und wir essen stumm weiter.
Es dauert keine zwanzig Minuten bis zum nächsten physischen Ausbruch. Meine Schwester hat ihm seinen Schwarztee zur Couch gebracht. Dort hat er die letzte Viertelstunde damit verbracht, sich wegen der unmöglichen Frechheit meiner Schwester in Rage zu reden, während der Fernseher läuft. Ich blicke nervös vom anderen Ende der Couch auf, weil ich diese Situation schon des Öfteren erlebt habe. Wenn er sich nicht beruhigt, wird jemand verprügelt. Und es sieht so aus, als wäre heute meine Schwester dran.
Als sie den Tee abgestellt hat, springt mein Vater auf und packt sie am Nacken. Er brüllt auf sie ein und drückt sie zu Boden, das letzte, was ich sehe, ist seine erhobene Faust. Ich springe auf und laufe aus dem Zimmer. Unsere Wohnung ist keine 50 Quadratmeter groß, viel Platz zum Verkriechen ist nicht vorhanden. Ich verschwinde hinter dem Vorhang im Vorzimmer, der den Schlafbereich meiner Eltern vom Eingangsbereich trennt. Knapp vor ihrem Bett steht eine große Tiefkühltruhe, ich lasse mich in den schmalen Spalt zwischen Bett und Truhe fallen, kauere mich zusammen und presse die Handflächen auf meine Ohren. Das gedämpfte Geschrei meines Vaters kann ich dennoch nicht ausblenden, dazwischen immer wieder dumpfe Erschütterungen, die ich mehr spüre als höre. Ich schließe die Augen und beginne mich im Liegen langsam hin und her zu wiegen. Bitte hör auf! Bitte, bitte, bitte, hör auf! Bitte!
Eine Hand schüttelt mich zärtlich am Kragen meines Pullovers. Ich schrecke hoch und sehe in das verweinte Gesicht meiner Schwester, die sich über mich gebeugt hat. Meine Hände sind immer noch fest gegen meine Ohren gepresst, scheinbar bin ich in dieser Pose eingeschlafen. Der Stress, dem ich ausgesetzt war, hat kurioserweise dazu geführt, dass mein Hirn die Flucht in den Schlaf angetreten ist. Eine Form der Stressbewältigung, die in meinem Körper bis heute Anwendung findet. Meine Schwester löst meine tauben Hände zärtlich von meinem Kopf und redet beruhigend auf mich ein. Sie zieht mich langsam hoch und ich springe in ihre Arme und halte mich an ihr fest. Sie umarmt mich und streichelt mir den Kopf.
Alles gut, sagt sie, alles gut.
Ob es schlimm war, will ich wissen. Heiße Tränen rinnen mir über die Wangen
Nein, war nicht schlimm, versichert sie mir, während ihre Hand weiter meinen Hinterkopf streichelt.
Ob es weh getan hat, will ich wissen.
Nein, hat nicht weh getan, versichert sie mir, nimmt mich hoch und trägt mich in die Küche. Dort setzt sie sich mit mir auf einen Sessel und wiegt mich so lange hin und her, bis ich mich beruhige und bereit bin, sie loszulassen. Eine fünfzehnjährige mit ihrem kleinen, achtjährigen Bruder. Ich sehe sie an und wünschte, dass ich etwas tun könnte. Aber es gibt nichts. Nichts, was wir tun können, um ihm zu entkommen. Seinen Launen, seinem Jähzorn, seinem Hass auf alles und jeden. Nur die Zeit wird uns in die Hände spielen. Eines Tages werden wir ihm entkommen. Alle.
Während ich an diese Zukunft ohne Gewalt denke, höre ich die Fernseh-Geräusche aus dem Wohnzimmer und meinen Vater, der seinen Tee schlürft.
Eines Tages, denke ich stumm.
Eines Tages.