Fortune

Als mir der ganze Krach, den die Hochzeitsgäste veranstalten, zu viel wird, schnappe ich mir einen Drink und verziehe mich über den Hügel runter zum Strand. Wir sind bereits vier Tage in einem karibischen Paradies und zelebrieren das Jawort, das mein bester Freund seiner Freundin gegeben hat. Das war vorgestern. Norbert, mein bester Freund, hielt es für eine angemessene Geste, alle Gäste einfliegen zu lassen und ihnen noch eine Woche Urlaub zu schenken. Ich, als Trauzeuge, darf sogar noch eine Woche länger bleiben. Tja, Geld muss man haben.

Wie genau Norbert zu seinem Geld gekommen ist, weiß niemand. Sein immenses Vermögen wird von einer Heerschaft an Anwälten, Notaren und Investmentbankern verwaltet und es scheint, als hätte er tatsächlich genug Kohle, um sich die nächsten 1000 Jahre keine Gedanken mehr darum machen zu müssen. Wenngleich ich es ihm auch zutiefst vergönne, habe ich mich immer gefragt, warum er mir, seinem besten Freund und Trauzeugen, nicht anvertraut, wie er so reich werden konnte. Weil Geld hatte Norbert nicht immer.

Während ich also an die guten, alten Zeiten denke, als wir beide noch kleine Support Mitarbeiter im Helpdesk einer Bank waren, erspähe ich ihn tatsächlich unten am Strand, alleine. Er steht da, die Hosenbeine hochgekrempelt und bis zu den Waden in den Wellen, die sich sanft um seine Knöchel kräuseln, eine Bierflasche in der Hand und scheint aufs Meer hinauszusehen. Ich nähre mich ihm langsam und bemerke, dass er gedankenverloren ins Nichts glotzt. Als er mich kommen hört, dreht er sich um und lächelt mich freundlich an. Ich stelle mich neben ihn und wir prosten uns gegenseitig zu.

„Alles klar?“, frage ich ihn schließlich.

Er seufzt zufrieden.

„Jep. Könnte nicht besser sein.“

Das genügt mir.

„Wo ist Moni?“

Er zuckt wortlos mit den Achseln. Nachdem wir uns auf einer Insel befinden, kann seine frischgebackene Ehefrau nicht weit sein, denke ich und belasse es dabei.

Stumm stehen wir nebeneinander und hören dem türkisen Meer dabei zu, wie es uns Jahrmillionen alte Geschichten erzählt.

„Du hast mich nicht gefragt, woher ich die Kohle habe.“, sagt Norbert schließlich vollkommen aus dem Nichts.

„Huhmm?!“

Ich muss wohl ein ziemlich belämmertes Gesicht machen, als ich ihn ansehe, er beginnt laut zu lachen.

„Naja, das ganze Geld.“

Er deutet mit der Bierflasche aufs Meer hinaus, so als ob es von dort stammen würde.

„Du hast mich nie gefragt, woher ich es habe.“

Ich antworte nicht gleich.

„Naja, es spielt ja auch keine Rolle, oder?“, gebe ich diplomatisch von mir. Ich denke zum jetzigen Zeitpunkt würde ich mir tatsächlich den kleinen Finger abschneiden um herauszufinden, wie zum Teufel er so reich werden konnte.

Und schließlich, aus einer Laune heraus, beginnt Norbert mir zu erzählen, welche abgefuckt verrückten Zufälle dazu geführt haben, dass er mittlerweile jedes Jahr in der Forbes Liste der wohlhabendsten Menschen weltweit auftaucht. Ich stehe daneben und höre ihm stumm zu. Es hat etwas mit einem Computerspiel namens „Fortune“ zu tun, das vor 30 Jahren, in den frühen Zweitausendern für Furore gesorgt hat.

Es geht darum, irgendwelche Reichtümer anzuhäufen und Figuren zu leveln, welche mit diesen Reichtümern immer mächtiger werden. Norbert’s Vater zieht einen Character hoch, bis er des Spiels leid wird und sich auf andere Dinge konzentriert, wie zum Beispiel die Nachbarin, was zur Folge hat, dass er ein Jahr darauf auszieht um mit ihr eine neue Familie zu gründen. Die Macher von „Fortune“ ziehen zehn Jahre nach Spielstart die Notbremse, um sich auf ein neues Spielkonzept zu konzentrieren, das sich auf die neue Technologie der Augmented Reality stützt. Als das Folgespiel „Bling“ herauskommt, bieten sie allen alten Fortune-Spielern an, ihre Spielaccounts gratis auf Bling zu übersiedeln um in einer neueren, besseren Spielwelt mit einem unschlagbaren Umrechnungswert der alten auf die neue Spielwährung weiter an ihren Reichtümern zu scheffeln. Tatsächlich tun dies auch alle Spieler weltweit, bis auf, und das ist das einer der unglaublichen Zufälle, Norbert’s Vater. Die Spielemacher konzentrieren sich auf das neue Spiel, während sie alle alten Server sukzessive lahmlegen, bis sie nur noch einen, mit dem letzten Spielaccount am Laufen haben. Weil die Löschung alter Spieldaten den Fortune-Betreibern zutiefst zuwider ist, beschließen sie, den Server einfach laufen zu lassen. Als Norbert’s Vater vor einigen Jahren ziemlich rasant an Krebs verstirbt und ihn eine Kiste mit seinen persönlichen Dingen erreicht, findeter tatsächlich einen Eintrag in einem seiner Notizbücher mit Infos auf einen alten Spielaccount. Ein wenig Recherche und Norbert findet heraus, um welches Spiel es sich handelt. Eine funktionierende Kopie des Game-Clients und, noch schwieriger, ein funktionierendes Umfeld zu finden, auf dem dieser Client noch laufen, sind schon zeitintensivere Projekte. Zu diesem Zeitpunkt hat sich Norbert jedoch schon so sehr in diese Schnitzeljagd vertieft, dass sie seine gesamte Freizeit in Anspruch nimmt. Zeitgleich beschließen die Bling-Betreiber zum dreissigjährigen Jubiläum von Fortune, ein aktualisiertes Re-Issue des Clients herauszubringen, auf dem Bling-Spieler in einem Retro-Umfeld die Ursprünge von Bling erkunden können. Nachdem der alte Server auch noch läuft und über Daten verfügt, werden etwaige alte Konten einfach übernommen und die alte Fortune-Datenbank in den neuen Client eingespeist. Das ganze passiert, und das ist ein weiterer unglaublicher Zufall, genau an dem Tag, als Norbert es endlich schafft, Fortune auf dem alten System zum Laufen zu bringen. Er nutzt die Zugangsdaten zum Spielaccount seines Vaters und loggt sich auf dem einzigen Server ein, der noch läuft. Nachdem aber niemand mehr die alte Version spielt und er stundenlang alleine durch eine ziemlich langweilig aussehende Welt läuft, beschließt er, es gutsein zu lassen, bis ein Popup im Spiel ihn darauf hinweist, dass es eine aktualisierte Version des Spiels gibt, auf das er updaten kann, ohne von vorne beginnen zu müssen. Ohne zu wissen, was er tut, wechselt Norbert die Plattformen und landete in einem neuen Spielumfeld, das er nur mit seiner PS6 und seinem 4D-Helm betreten kann. Unnötig zu erwähnen, dass es ihm auf Anhieb gefällt. Auch die Tatsache, dass der Spielaccount seines Vaters die letzten zwanzig Jahre weiter mittels Autofunktion Spiel-Geld gescheffelt hat und ihm somit direkt bei Spielstart, verursacht durch den Umrechnungsbonus von Fortune auf Bling, mehrere Trillionen Spielgeld zur Verfügung stehen, findet er ziemlich allerliebst. Eine der nennenswerten, neuen Funktionen des Fortune-Re-Issues beinhaltet den Kauf von Spielwährung für reales Geld. Und, ja, auch der Verkauf ist möglich. Nachdem sich Bling in den vergangenen Jahrzehnten zum meistgenutzten Onlinespiel gemausert hat, ist man sich einig gewesen, dass es Sinn machen würde, eine Realgeldfunktion einzubauen. Und natürlich hat dies zur Folge, dass sie innerhalb kürzester Zeit das reichste Unternehmen weltweit werden. Als sich Norbert nun also, dreißig Jahre, nachdem sein Vater Fortune installiert hat, erstmalig in einem virtuellen Umfeld in seine Hausbank begibt um nach dem rechten zu sehen, erfährt er, dass er sein gesamtes Spielvermögen von knapp 17 Trillionen zu einem durchaus attraktiven Umrechnungskurs in mehrere Milliarden echtes Geld umwandeln kann.

Ich glotze Norbert stumm an.

„Du verarscht mich.“

Er lächelt und schüttelt langsam den Kopf.

„Ein Spiel?!“

Er nickt.

„Ein verficktes Spiel? Fortune?“

Er nickt.

Ich trinke mein Wasser aus. Ich denke, ich brauche etwas Stärkeres. Ich lasse ihn alleine am Strand stehen und gehe, vorbei an den immer noch schnatternden und teilweise angetrunkenen Hochzeitsgästen, zurück zu meinem Bungalow. Ich gieße mir ein großes Glas Vodka ein, trinke es in einem Zug aus und lege mich auf das Bett. Während draußen das Geschnatter der Hochzeitsschar immer lauter zu werden scheint, denke ich an meine Eltern und mein Studium und wie sie unser Haus mit einer Hypothek versehen mussten, damit ich auf die Uni gehen kann. Ich denke an Kredite und Sommer, die wir daheim verbracht haben, weil kein Geld da war. An die ganzen Jobs, die ich machen musste, damit ein wenig Geld ins Haus kommt. Ich frage mich, wie es sein muss, tatsächlich über mehrere Milliarden zu verfügen und welche Art von Problemen so ein Vermögen mit sich bringt. Und während ich mich frage, wieviel Koks und Nutten man mit so viel Geld kaufen kann, drifte ich langsam in einen Schlaf, in dem ich träume, in meinem Geldspeicher in goldenen Talern herumzuschwimmen.

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